




Kapitel 5: Die grausame Wahrheit
Als Avery fünf Jahre alt war...
Die fünfjährige Avery saß auf dem weichen Sofa im Büro ihres Vaters, Tränen strömten über ihre runden Wangen, während die Stimmen ihrer Eltern lauter und wütender wurden. Ihre winzigen Hände bedeckten ihre Ohren, doch das Geschrei konnte sie nicht ausblenden.
„Wir brauchen dieses Bündnis, Marcus!“ schrie ihre Mutter und schlug mit der Handfläche auf den Schreibtisch. „Blood Moon ist verwundbar. Das Crescere-Rudel würde uns Schutz bieten!“
„Ich werde keinem anderen Alpha die Knie beugen!“ brüllte ihr Vater zurück. „Blood Moon hat über Generationen überlebt, ohne jemandes Schoßhund zu werden!“
„Dein verdammter Stolz wird uns alle umbringen!“ Ihre Mutter griff nach einem Kristallbriefbeschwerer vom Schreibtisch und schleuderte ihn gegen die Wand, wo er zerbrach. „Du denkst, du bist so mächtig, aber du bist nur ein sturer Narr!“
Avery schluchzte lauter, erschrocken von der Gewalt und dem Zorn, die den Raum erfüllten. Keiner ihrer Eltern schien ihre Not zu bemerken, zu sehr in ihren Streit vertieft.
Plötzlich erklangen Schreie von außerhalb des Büros. Keine wütenden Rufe wie die ihrer Eltern, sondern Schreie des Terrors und Schmerzes.
Ein Wächter stürzte durch die Tür, Blut strömte aus einer Wunde an seiner Stirn. „Alpha! Wir werden angegriffen! Streuner – mindestens dreißig von ihnen – sie haben den Südeingang durchbrochen!“
Ihre Mutter wirbelte zu ihrem Vater herum. „Siehst du? Genau davor habe ich dich gewarnt! Wir hätten Verbündete rufen können!“
„Halt die verdammte Klappe, Eliza!“ fauchte er, dann wandte er sich an den Wächter. „Mobilisiere alle, die kämpfen können. Schützt die Hauptgebäude.“
Als der Wächter hinaus eilte, wurden die Schreie und die Geräusche des Kampfes lauter. Averys Vater fluchte heftig, dann sah er seine Tochter an, als würde er sich gerade erst daran erinnern, dass sie da war.
Schwere Schritte donnerten den Flur entlang in Richtung Büro. Mehrere Schritte, die sich zielgerichtet bewegten.
„Scheiße!“ Ihr Vater packte Avery und hob ihren kleinen Körper mühelos hoch. Er eilte zu seinem massiven Holzschreibtisch und riss die unterste Schublade auf, räumte den Inhalt mit einem Schwung seines Arms heraus.
„Hör mir zu, Liebling,“ flüsterte er dringend und setzte sie in den leeren Raum. „Du musst hier bleiben. Mach kein Geräusch, egal was du hörst. Verstehst du? Kein einziges Geräusch.“
Avery nickte, ihre grünen Augen weit vor Angst. Ihr Vater drückte einen Kuss auf ihre Stirn, bevor er die Schublade schloss, nicht ganz, aber genug, dass sie nicht zu sehen war.
Durch den kleinen Spalt sah Avery, wie die Bürotür aufbrach. Drei Männer mit wilden Augen und blutbefleckten Kleidern stürmten herein. Sie sahen nicht aus wie die Wölfe aus ihrem Rudel. Sie sahen... falsch aus. Wild.
„Na, na,“ sagte der größte von ihnen und grinste, wobei er blutbefleckte Zähne entblößte. „Der mächtige Alpha von Blood Moon, in seinem eigenen Büro in die Enge getrieben.“
Was als nächstes geschah, brannte sich für immer in Averys Gedächtnis ein. Die Streuner fielen über ihre Eltern her wie Tiere. Ihre Mutter kämpfte heftig, zerkratzte das Gesicht eines Streuners zu Fetzen, bevor ein anderer ihr ein Messer in den Rücken stieß. Ihr Vater schaffte es teilweise, sich zu verwandeln, seine Krallen rissen einem Angreifer die Kehle auf, bevor die anderen ihn überwältigten.
Avery biss sich in den eigenen Arm, um nicht zu schreien, während sie zusah, wie ihre Eltern starben. Blut sammelte sich auf dem Boden und kroch langsam auf den Schreibtisch zu, unter dem sie sich versteckte. Der metallische Geruch erfüllte ihre Nase und brachte sie zum Würgen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verließen die Eindringlinge lachend und sich gegenseitig gratulierend das Büro, weil sie ein Alpha-Paar getötet hatten. Stille legte sich über den Raum, nur unterbrochen von den fernen Geräuschen des Kampfes irgendwo anders im Anwesen.
Zitternd vor Angst schob Avery die Schublade auf und kroch heraus. Ihre kleinen Füße hinterließen blutige Abdrücke, als sie sich den Körpern ihrer Eltern näherte.
"Mama?" flüsterte sie und berührte die erkaltende Hand ihrer Mutter. "Papa?"
Keiner antwortete. Keiner würde jemals wieder antworten.
Avery's Blick fiel auf die Machete, die einer der Eindringlinge zurückgelassen hatte, deren Klinge mit dem Blut ihrer Eltern bedeckt war. In ihrem von Trauer erfüllten Geist formte sich ein schrecklicher Gedanke. Wenn ihre Eltern fort waren, wollte sie bei ihnen sein.
Ihre kleinen Finger umklammerten den Griff und hoben ihn mühsam. Sie setzte sich auf den Boden neben ihre Eltern, die Waffe auf ihrem Schoß, und versuchte den Mut zu finden, sie gegen sich selbst zu richten.
Als der Regen gegen die Fenster prasselte, weinte Avery, ohne zu bemerken, dass ihre Augen begonnen hatten, in einem brillanten, unnatürlichen Rot zu leuchten.
In diesem Moment kehrte Trevor von einer diplomatischen Mission zurück und fand Blood Moon in Trümmern vor. Die Hälfte des Rudels war tot oder verletzt, das Alpha-Paar ermordet. Den Spuren der Verwüstung folgend, erreichte er das Büro mit mehreren Rudelmitgliedern.
Was sie vorfanden, war die kleine Avery, die in einer Blutlache saß und eine Machete umklammerte, neben den verstümmelten Körpern ihrer Eltern. Als sie bei ihrem Eintreten aufsah, verzerrte sich Trevors Gesicht vor Entsetzen.
"Ihre Augen!" keuchte einer der Wölfe hinter ihm. "Rote Augen! Das Zeichen des Dämonenwolfs! Die Legenden sagen, ein Wolf mit roten Augen bringt nichts als Tod!"
Trevor starrte seine Schwester an, wie alle glaubten – mit einer Mischung aus Angst und Abscheu. Das kleine Mädchen ließ die Machete klirrend fallen, ihre blutigen Hände zitterten.
"Sperrt sie in den Kerker," befahl Trevor mit zitternder Stimme. "Sofort!"
Die nächsten zwei Jahre lebte Avery in Dunkelheit, gefürchtet und isoliert. Bis Trevor eine Hexe traf, die eine Lösung anbot – ein Ritual, das Averys Wolf binden und ihre Erinnerungen unterdrücken würde.
Mit sieben Jahren wurde Avery aus dem Kerker entlassen, ohne Erinnerung an ihre Eltern oder daran, wie sie gestorben waren. Aber das Rudel sorgte dafür, dass sie eines wusste: Sie hatte sie mit ihren eigenen Händen getötet.
Und so begannen Jahre des Missbrauchs durch Trevor, Kevin und später Eva – Bestrafung für ein Verbrechen, an das sie sich nicht erinnern konnte, Schicht um Schicht Trauma, bis sie zu dem gebrochenen, ängstlichen Wesen wurde, das sie heute war.
Autorenhinweis: Avery ist jetzt 22 Jahre alt. Da sie mit Inhibitoren injiziert wurde, konnte sie im Alter von 18 Jahren keinen Gefährten finden wie andere Wölfinnen, aber vier Jahre später.