




Kapitel 5
ARIA
Ich war vor der Morgendämmerung aufgestanden, bereits angezogen, als das Licht durch mein Fenster kroch. Der Schlaf war unruhig gewesen – Träume, in denen ich durch endlose Wälder gejagt wurde, verfolgten mich. Bree's Messer lag auf meinem Nachttisch, eine Erinnerung daran, dass es heute nicht nur ums Weggehen ging – es ging ums Überleben.
Ein leises Klopfen um 5:30 Uhr. "Aria?" flüsterte Gabriel. "Lass uns gehen."
Ich schnappte mir meinen Rucksack, warf einen letzten Blick auf mein Zimmer der letzten zehn Jahre und steckte das Messer in meinen Stiefel. Der vertraute Raum fühlte sich plötzlich fremd an. Ich schloss die Tür dieses Kapitels meines Lebens.
Unten lud Lucas unsere Taschen in Gabriels SUV, seine Bewegungen angespannt – mehr Krieger als der Bruder, den ich kannte.
"Bereit?" fragte er und nahm meinen Rucksack.
Ich nickte, unfähig, über den Kloß in meinem Hals hinweg zu sprechen. Unser Rudel, unser Zuhause zu verlassen – es fühlte sich schwer an.
Gabriel reichte uns Reisebecher. "Kaffee. Lange Fahrt vor uns."
Minuten später saßen wir im SUV – Gabriel am Steuer, Lucas scannte die Bäume, ich hinten, versuchte, meinen aufgewühlten Magen zu ignorieren. Gabriel ließ die Scheinwerfer aus, als wir die Kiesauffahrt hinunterrollten, nutzte sein Werwolfsehen im schwachen Licht. Ich prägte mir die Silhouette unserer Hütte ein, als sie hinter uns verschwand.
"Die Grenzpatrouille wechselt um sechs," sagte Gabriel und schaute auf seine Uhr. "Bis Warren es merkt, sind wir im neutralen Gebiet."
Die Straßen waren leer, neblig. Etwa eine Meile von der Rudelgrenze entfernt, spannte sich Lucas an.
"Vater. Drei Uhr."
Gabriels Griff verstärkte sich. "Ich sehe es."
Ich strengte mich an, konnte aber durch die Bäume nicht sehen wie sie. Dann sah ich es – eine Bewegung, die mit uns Schritt hielt.
"Warrens Männer?" Mein Herz raste.
Gabriel schüttelte den Kopf. "Es ist Dylan."
Erleichterung und Verwirrung mischten sich in meiner Brust. "Was macht er hier?"
Als Antwort brach der Schatten vor uns aus den Bäumen und verwandelte sich in Dylans menschliche Gestalt, die mitten auf der Straße stand. Gabriel bremste sanft und brachte uns einige Meter entfernt zum Stehen.
"Bleibt im Auto," befahl er, öffnete dann seine Tür und stieg aus.
Lucas verschob sich auf seinem Sitz, positionierte sich, um bei Bedarf schnell zu handeln. Ich beobachtete durch die Windschutzscheibe, wie Gabriel auf Dylan zuging, ihre Atemzüge sichtbar in der kühlen Morgenluft.
"Warrens Männer sind bereits am Kontrollpunkt," sagte Dylan laut genug, dass wir es hören konnten. "Er hat den Zeitplan vorverlegt. Nehmt die alte Holzfällerstraße."
Gabriel nickte. "Danke."
Dylan sah mich durch das Glas an, Bedauern überzog sein Gesicht. "Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber..." Er schüttelte den Kopf.
"Nicht deine Schuld," sagte Gabriel. "Du hast genug getan."
Dylan reichte ihm eine gefaltete Karte. "Diese Route umgeht alle Kontrollpunkte. Fügt zwei Stunden hinzu, aber ihr findet hier Vorräte, wenn nötig." Er deutete auf einen Punkt.
"Komm mit uns," schlug Gabriel vor. "Wenn Warren merkt—"
"Ich werde es regeln," unterbrach ihn Dylan. "Jemand muss bleiben und die Dinge in Ordnung bringen. Mein Vater wird nicht für immer Alpha sein."
Es herrschte eine gewichtete Stille zwischen ihnen, ein unausgesprochenes Verständnis zwischen zwei Kriegern. Dann ergriff Gabriel Dylans Unterarm im traditionellen Wolfsgruß.
"Moon Shadow's Türen stehen dir offen," sagte Gabriel. "Wenn die Zeit kommt."
Dylan nickte und trat zurück in die Baumgrenze. "Geht. Sie werden bald kommen."
Gabriel kehrte zum SUV zurück und entfaltete Dylans Karte auf dem Armaturenbrett. "Sieht so aus, als nehmen wir die malerische Route," sagte er grimmig und startete den Motor.
Ich drehte mich um und beobachtete durch das hintere Fenster, wie Dylan seine Gestalt wechselte, seine menschliche Silhouette verschwamm und sich in einen mächtigen braunen Wolf verwandelte. Er stand einen Moment lang wachsam in der Mitte der Straße, dann verschwand er zurück in den Wald.
"Er riskiert viel," sagte ich leise.
Lucas nickte. "Dylan hatte immer mehr Integrität als sein Vater. Er wird eines Tages ein guter Alpha sein."
Gabriel lenkte uns auf einen schmalen, fast überwucherten Feldweg, der SUV hüpfte über Schlaglöcher und freiliegende Wurzeln. "Wenn er Warrens Zorn überlebt, wenn dieser merkt, dass sein Sohn uns geholfen hat zu entkommen."
Die Implikationen hingen schwer in der Luft, als wir tiefer in die Wildnis vordrangen und das einzige Rudel hinter uns ließen, das ich je gekannt hatte. Die alte Holzfällerstraße war stellenweise kaum mehr als ein Pfad, der sich durch dichten Wald und felsiges Gelände schlängelte, das für jeden ohne Gabriels intime Kenntnis des Gebiets unpassierbar gewesen wäre.
Bis zum späten Vormittag hatten wir das neutrale Gebiet überquert - die unbeanspruchte Pufferzone zwischen den Rudelgebieten, die als diplomatisches Niemandsland diente. Gabriel entspannte endlich seinen eisernen Griff um das Lenkrad, und Lucas ließ das Fenster herunter, um die Luft zu schmecken.
"Keine Anzeichen einer Verfolgung," bestätigte er.
Wir hielten kurz an einem Straßenimbiss an, weit entfernt von jedem Wolfsterritorium. Die menschliche Einrichtung fühlte sich seltsam normal an inmitten unserer außergewöhnlichen Umstände - Kellnerinnen, die Kaffee einschenkten, Trucker, die über Teller mit Eiern gebeugt waren, und Musik, die leise aus einer uralten Jukebox spielte.
"Esst auf," ermutigte Gabriel, als mein Appetit nachließ. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns."
Ich zwang mich, etwas Toast und Rührei hinunterzuschlucken, wissend, dass er recht hatte. Als wir uns zum Aufbruch bereit machten, zog Gabriel sein Handy heraus und deaktivierte das GPS.
"Von jetzt an nur noch Wegwerfhandys," sagte er und reichte jedem von uns ein einfaches Klapphandy aus einer Tasche, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. "Benutzt diese, wenn wir getrennt werden. Nur im Notfall."
Zurück auf der Straße verwandelte sich die Landschaft allmählich. Die vertrauten dichten Wälder unseres Territoriums wichen offenerem Land, dann sanften Hügeln, die stetig in Vorgebirge anstiegen. Am Nachmittag dominierten Berge den Horizont - gezackte Zähne gegen einen perfekten blauen Himmel.
"Das Moon Shadow-Territorium beginnt am Fuß dieser Gipfel," erklärte Gabriel und deutete auf die fernen Berge. "Wir sollten die Grenze bis zum Einbruch der Nacht erreichen."
Während der Fahrt dachte ich an Jace Carter, den Alpha, der unsere Zukunft in seinen Händen hielt. Würde er uns wirklich willkommen heißen oder uns nur als Gefallen für Gabriel tolerieren? Und wie wäre es, unter dem Schutz eines Alphas mit legendärer Macht zu leben?
Der SUV kletterte stetig in höhere Lagen, die Luft wurde kühler und dünner. Kiefernwälder ersetzten die Mischwälder unserer Heimat, Bäume, die höher und älter waren als alle, die ich je gesehen hatte. Alles fühlte sich hier ursprünglicher an, wilder.
"Da," sagte Lucas plötzlich und deutete auf ein fast im Wald verborgenes Holzschild: MOON SHADOW TERRITORY - AUTHORIZED ENTRY ONLY.
Gabriel verlangsamte das Fahrzeug. "Wir sind da."
Ich spähte durch die Windschutzscheibe auf die weite Wildnis, die sich vor uns erstreckte. Irgendwo hinter diesen Bäumen lag unser neues Zuhause - wenn Jace Carter uns aufnehmen würde.
Gabriel fuhr den SUV kurz hinter dem Schild an den Straßenrand. "Wartet hier," wies er uns an und stieg aus.
Lucas und ich beobachteten, wie er ein paar Schritte in den Wald ging, dann den Kopf zurücklegte und ein langes, tiefes Heulen ausstieß - nicht in Wolfsform, sondern eine menschliche Annäherung, die dennoch Kraft und Respekt vermittelte. Der Klang hallte durch die Berge, eine formelle Bitte um Eintritt in das Territorium eines anderen Alphas.
Stille folgte, nur vom Wind in den Kiefern unterbrochen. Dann erklang von irgendwo tief im Wald ein Antwortheulen - tiefer, stärker, resonierend mit einer Autorität, die mir selbst auf diese Entfernung eine Gänsehaut verursachte.
Gabriel kehrte zum Auto zurück, ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. "Sie schicken eine Eskorte. Wir werden erwartet."
Als die Sonne hinter den Bergen zu sinken begann und alles in goldenes und bernsteinfarbenes Licht tauchte, erhaschte ich meinen ersten Blick auf unsere neue Zukunft - Schatten, die sich durch die Bäume bewegten und sich mit der fließenden Anmut näherten, die selbst in menschlicher Form erkennbar war.
Lucas richtete sich auf, seine Hand bewegte sich instinktiv zum Messer an seinem Gürtel, bevor er sich wieder entspannte. "Das ist Hunter," sagte er und erkannte eine der näherkommenden Figuren. "Jaces Beta."