




Kapitel 2
Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg zur Schwesternstation. Meine Schritte stockten, als ich das unverkennbare Klicken von Absätzen auf dem Marmorboden hörte, begleitet von einer männlichen Stimme, die mein Herz zusammenziehen ließ.
"Langsam jetzt." Henrys Stimme hatte diesen sanften Ton, den ich fast vergessen hatte. "Du solltest dich nicht überanstrengen."
Ich duckte mich hinter eine große Topfpflanze, aber es war zu spät, um ihnen vollständig auszuweichen. Isabella Scott hing an Henrys Arm, als gehöre sie dorthin, ihr weißer Anzug makellos trotz der späten Stunde. Ihr platinblondes Haar fiel in perfekten Wellen, und selbst unter dem unvorteilhaften Krankenhauslicht blieb ihr Make-up makellos.
"Oh, Henry," Isabellas atemlose Stimme hallte klar den Korridor entlang. "Mir ist nur ein bisschen schwindelig. Diese schrecklichen Krankenhauslichter..." Sie schwankte dramatisch gegen ihn, ihre manikürten Finger klammerten sich an sein Revers.
Ich beobachtete, wie Henrys Gesichtsausdruck weicher wurde, auf eine Weise, die ich in unseren fünf Ehejahren nie gesehen hatte. Ohne zu zögern hob er Isabella in seine Arme, wiegte sie an seiner Brust. "Zwing dich nicht, wenn es dir nicht gut geht."
Die Zärtlichkeit in seiner Stimme ließ meine Kehle eng werden. In fünf Jahren hatte er mir nie solche Sorge gezeigt. Selbst als ich mit Billy schwanger war...
"Henry!" Isabellas Stimme erklang plötzlich scharf und klar. "Ist das nicht Mrs. Harding dort drüben?"
Ich richtete mich auf und trat hinter der Pflanze hervor. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu verstecken. Meine zerknitterte Bluse und der unordentliche Pferdeschwanz fühlten sich plötzlich auffällig an unter Isabellas Blick.
"Wie interessant, dich hier zu treffen." Isabellas Lächeln erreichte nicht ihre Augen, während Henry sie weiterhin hielt. "Wir müssen unbedingt anhalten und Hallo sagen, Henry. Schließlich sind wir alle Bostoner Mädchen."
Die Art, wie sie 'Boston' betonte, machte deutlich, dass sie auf unsere völlig unterschiedlichen sozialen Kreise zu Hause anspielte. Während sie an Debütantinnenbällen teilgenommen hatte, arbeitete ich Teilzeitjobs, um mein Medizinstudium zu finanzieren.
Henrys graue Augen musterten mich mit klinischer Distanziertheit. "Das ist nicht nötig. Du wirst dich nur aufregen."
"Keine Sorge." Isabellas Stimme triefte vor honigsüßem Gift. "Ich habe gehört, dein Sohn ist krank? Wie praktisch, dass er genau dann krank wurde, als Henry von seiner Geschäftsreise zurückkam. Du benutzt die Gesundheit des Kindes doch nicht, um Aufmerksamkeit zu erlangen, oder, liebe Sophia?"
"Das ist nicht... Ich habe nie..." Die Worte blieben mir im Hals stecken, als Henrys Gesichtsausdruck sich verdüsterte.
"Ich..." Ich begann, mich zu verteidigen, wurde aber von schnellen Schritten unterbrochen.
"Mrs. Harding!" Eine Krankenschwester eilte auf mich zu, ihr Gesicht vor Sorge angespannt. "Sie müssen schnell kommen. Die Temperatur Ihres Sohnes ist auf 40,9 Grad gestiegen und er zeigt Anzeichen von Fieberkrämpfen!"
Mein Herz setzte aus. "Was? Aber er war doch stabil gerade noch..."
„Der behandelnde Arzt wurde für Miss Scotts routinemäßige Untersuchung in den 18. Stock gerufen“, fuhr die Krankenschwester fort und warf Isabella einen nervösen Blick zu. „Wir versuchen, einen anderen Arzt zu finden, aber...“
Ich wartete nicht länger, sondern rannte bereits in Richtung von Billys Zimmer. Hinter mir hörte ich Isabellas theatralisches Seufzen: „Ach du meine Güte, es scheint, als wüsste das Personal in diesen Stunden einfach nicht, wie man sich richtig um Kinder kümmert...“
Zimmer 1630 schien Meilen entfernt zu sein. Als ich durch die Tür stürzte, brachte mich der Anblick des kleinen Körpers meines Sohnes, der sich auf dem Bett krümmte, fast in die Knie.
„Helfen Sie mir mit den Kühlmaßnahmen“, befahl die Krankenschwester und zog bereits Billys Decke ab. „Wir müssen seine Temperatur jetzt senken!“
Meine Hände zitterten, als ich versuchte, die Flasche mit dem Reinigungsalkohol zu öffnen. Der Deckel wollte nicht aufgehen, und als er es schließlich tat, spritzte die Hälfte des Inhalts über mein Hemd. Der scharfe Geruch brannte in meiner Nase, während ich der Krankenschwester half, kühle Umschläge auf Billys Haut zu legen.
„Mama...“, Billys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern zwischen flachen Atemzügen. „Es tut weh...“
„Ich weiß, Schatz. Ich weiß.“ Ich kämpfte darum, meine Stimme ruhig zu halten. „Halte durch. Der Arzt wird bald hier sein.“
Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Alle verfügbaren Ärzte waren in den 18. Stock gerufen worden, wo Isabella Scott ihre ‚Routine‘-Untersuchung hatte. Der gesamte Stock war für ihre Privatsphäre geräumt worden, und das reguläre Pflegepersonal durfte nicht eintreten.
Während ich meinen Sohn beim Atmen kämpfen sah, begann Wut meine Angst zu ersetzen. Das ging nicht mehr nur um Isabellas kleinliche Machtspielchen. Sie hatte diese ganze Szene inszeniert – ihre ‚Notfall‘-Untersuchung genau zu der Zeit angesetzt, als sie wusste, dass Billy hier sein würde, und die Ressourcen des Krankenhauses monopolisiert, während mein Sohn litt.
Die Monitore piepsten warnend, als Billys Temperatur weiter stieg. Ich drückte wiederholt den Rufknopf, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. In der Welt der Hardings bestimmten Geld und Macht alles, selbst den Zugang zur medizinischen Versorgung.
Durch die Glaswände von Billys Zimmer sah ich Henry, der Isabella in Richtung Aufzug trug. Sie lachte jetzt, alle Anzeichen ihrer vorherigen ‚Schwäche‘ waren verschwunden. Als sich die Türen hinter ihnen schlossen, wandte ich mich wieder meinem Sohn zu und drückte seine kleine Hand in meiner.
„Bleib bei mir, Liebling“, flüsterte ich und wischte ihm mit einem kühlen Tuch die Stirn ab. „Bleib einfach bei mir.“
Die Nacht schien endlos, nur unterbrochen vom stetigen Piepen der Monitore und Billys angestrengtem Atmen. In diesem Moment, als ich sah, wie Billy um jeden Atemzug kämpfte, erkannte ich endlich einige Wahrheiten über meine Ehe mit Henry. In den letzten fünf Jahren war alles einseitig von meiner Seite aus gewesen, Henry würde mich niemals lieben.
Und mein Sohn zahlte den Preis für meine Naivität.