




Kapitel 9: Warum verstecken wir uns?
Kaum war Irene verschwunden, verlor John die Beherrschung. Sein Gesicht wechselte von rot zu einem tiefen Violett, als er seine Faust auf den Tisch schlug. „Zwanzig Prozent? Hat Dad völlig den Verstand verloren?“
„Senke deine Stimme,“ zischte Rose, doch das Weinglas in ihrer Hand zitterte so stark, dass sie es fast verschüttete. „Wir müssen das in Ordnung bringen. Sofort.“
Anna konnte am Fenster kaum still stehen. Ernsthaft? Fünf Jahre lang hatte sie die perfekte Tochter gespielt, sich in die versnobten Kreise von Silver City eingeschleimt, und was bekam sie dafür? Mickerige zwei Prozent, während Irene einfach hereinspaziert und das Zehnfache abräumt?
All die Arbeit, schrie es förmlich in ihr, all die Jahre des Einschleimens, und ich bekomme die Reste, während sie den Hauptgewinn einstreicht?
Unterdessen bemühte sich Richard, cool und unbeeindruckt zu wirken, doch seine Gedanken rasten. Zwanzig Prozent der Sterling Group. Seine Blicke wanderten immer wieder zu der Stelle, an der Irene verschwunden war. Sie hatte sich seit den alten Tagen definitiv weiterentwickelt. Diese Selbstsicherheit, diese Eleganz – selbst die Art, wie sie ihn vorhin völlig ignoriert hatte? Irgendwie heiß, ehrlich gesagt.
Schwer zu kriegen spielen, grinste er innerlich. Gute Strategie, Babe.
„Das ist verrückt!“ Annas Stimme riss ihn in die Realität zurück. „Wir können ihr das nicht einfach durchgehen lassen!“
„Natürlich nicht,“ sagte Richard glatt, aber seine Gedanken waren schon woanders. Die zwei Prozent, die er durch die Heirat mit Anna bekommen würde? Lächerlich. Zwanzig Prozent waren ein ganz anderes Spiel.
Sie muss sich wirklich anstrengen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen, dachte er, sein Ego verwandelte ihre frühere Abfuhr in ein ausgeklügeltes Flirtmanöver. All diese Anteile vom alten Herrn zu bekommen... Ziemlich cleverer Schachzug.
Er fing sein Spiegelbild im Fenster auf, rückte seine Krawatte mit geübter Leichtigkeit zurecht. Immer noch der heißeste Fang in Silver City, ohne Frage. Perfektes Haar, Designerklamotten, dieses Million-Dollar-Lächeln – welche Frau bei klarem Verstand würde da nicht eine zweite Chance wollen?
Warte nur, Irene, dachte er, das Selbstbewusstsein strömte aus jeder Pore. Spiel ruhig schwer zu kriegen, Babe. Am Ende kommen sie alle zurück.
„Könnten Sie vielleicht ein bisschen schneller fahren?“ Irene hüpfte fast auf dem Rücksitz des Taxis, schaute zum millionsten Mal auf ihre Uhr. „Ich muss wirklich zu meinen Kindern zurück.“
Der Fahrer fing ihren Blick im Spiegel auf. „Zum Grand? Keine Sorge, Ma'am. Das sicherste Hotel der Stadt.“
Irene brachte ein knappes Lächeln zustande. Normalerweise machte sie sich keine Sorgen, ihre kleinen Genies allein zu lassen – sie waren wahrscheinlich klüger als die Hälfte der Erwachsenen, die sie kannte – aber dieser Gepäckfehler brachte ihre Nerven zum Tanzen.
Das schicke Restaurant des Hotels war mit der üblichen Nachmittagsmenge gefüllt, aber alle Augen waren auf den Ecktisch gerichtet, an dem drei unglaublich niedliche Fünfjährige ihren Tee beendeten.
„Noch mehr Scones, junger Herr?“ Der Kellner war völlig bezaubert von Alex' Mini-Geschäftsmann-Auftritt.
Alex tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab und sah aus wie ein kleiner CEO. „Sie waren perfekt. Vielleicht nächstes Mal ein bisschen mehr Sahne?“
„Alex!“ Lily zupfte an dem Ärmel ihres Bruders und warf einen Blick auf die sorgfältig gepackte Takeout-Tasche. „Hast du Mamas Lieblingssachen bekommen? Du weißt, wie sie wird, wenn sie den ganzen Tag unterwegs ist.“„Alles unter Kontrolle, Schwesterherz.“ Alex tätschelte die schicke Papiertüte, als wäre sie eine missionkritische Fracht. „Ein Lachs-Sandwich, ohne Gurke, extra Avocado. Griechischer Salat, doppelte Oliven. Und...“ er grinste, „diese Zitronentarte, die sie total liebt, aber vorgibt, sie nicht zu mögen.“
„Ich habe darauf geachtet, dass sie alles separat verpacken,“ warf Lucas stolz ein. „Damit nichts eklig und matschig wird.“
Die anderen Gäste versuchten verzweifelt, ihre Lächeln hinter Menüs und Servietten zu verbergen. Die Drillinge waren wie eine Live-Show von „Kinder sagen die niedlichsten Dinge.“
„Oh mein Gott, die sind einfach entzückend!“ Eine Dame am Nebentisch schmolz förmlich dahin. „Seid ihr Lieben Drillinge?“
„Schaut euch nur diese Augen an!“ Ein anderer Gast schwärmte. „Ich könnte sie einfach aufheben und mit nach Hause nehmen!“
„Wollt ihr eine Runde in meinem neuen Auto drehen, Süße?“ rief eine Großmutter-Typ.
Lucas setzte seinen Charme ein, große Augen und Grübchen. „Danke, aber wir haben schon eine Mama,“ verkündete er, als wäre es das Beste überhaupt. „Und sie ist buchstäblich die tollste Mama im ganzen Universum!“
Man konnte praktisch das kollektive „Awww!“ durch das Restaurant schweben hören.
Drüben bei den Aufzügen versuchte Adam, ein Geschäftsessen zu beenden, das viel zu lange gedauert hatte. „Thomas, sag mir, dass du etwas über diese Frau herausgefunden hast.“
„Das Hotelpersonal ist super hilfsbereit, Sir. Die Gästedaten kommen jeden Moment.“
Adams Finger tanzten ungeduldig auf der Armlehne seines Rollstuhls. Dieser Duft von früher trieb ihn in den Wahnsinn, wie ein Lied, dessen Text man nicht mehr kennt.
Hinter einer dieser edlen Marmorsäulen hockten drei winzige Verschwörer zusammen.
„Was ist los?“ flüsterte Lucas, vor Aufregung fast zitternd.
„Warum verstecken wir uns?“ Lily klammerte sich an ihren Teddybär wie an ein Rettungsseil.
Alex ging in den vollen Missionskommandanten-Modus. „Siehst du den Typen? Das ist Adam Haven, CEO von Haven Enterprise. Und jetzt kommts – er könnte unser Vater sein!“
„Echt jetzt?“ Lucas' Augen wurden riesig. „Machen wir das? Jetzt gleich?“
„Aber sicher.“ Alex' Grinsen war reiner Schabernack. „Lily, du bist dran, kleine Schwester.“
„Aber... was, wenn er mich nicht mag?“ Lily drückte ihren Teddybär noch fester.
„Bist du verrückt?“ Lucas stupste sie sanft an der Schulter. „Er ist Papa! Er wird dich lieben!“
„Wir stehen hinter dir,“ versprach Alex. „Operation: Finde Papa, Phase zwei... es geht los!“
Sie sahen, wie Thomas begann, Adam zum Aufzug zu schieben. Kurz bevor sich die Türen schlossen, holte Lily tief Luft, straffte ihre winzigen Schultern und machte sich auf den Weg. Ihre kleinen Schuhe klackerten über den Marmorboden wie ein winziger Trommelwirbel.
„Warte!“
Adams Hand schoss automatisch hervor, um die sich schließende Tür aufzufangen. Er schaute nach unten und – bumm – da war sie. Diese winzige Prinzessin in einem blauen Kleid, dunkle Locken hüpften. Sein Gehirn versuchte noch, das zu verarbeiten, als sie die Mutter aller Bomben platzen ließ:
„Papa! Warum hast du nicht auf mich gewartet?“
Die ganze Lobby erstarrte. Adam starrte dieses kleine Mädchen an, während etwas tief in seiner Brust seltsame Purzelbäume schlug. Als ob sein Herz etwas wüsste, das sein Gehirn noch nicht herausgefunden hatte.
Hinter ihrem Marmorsäulen-Versteck tauschten Alex und Lucas praktisch High-Fives mit ihren Augen aus. Phase zwei war in vollem Gange, und ihr vielleicht-Papa hatte keine Chance. Der Koffertausch in Phase eins war nur das Aufwärmen gewesen – jetzt begann die eigentliche Show.