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Kapitel 6

Irene war noch keine zehn Minuten weg, und Lucas hüpfte bereits wie ein Flummi durch die Gegend. So viel zu ihren ganzen „Bleib hier“-Vorträgen – ihr mittleres Kind war physisch unfähig, ruhig sitzen zu bleiben. Er zog ständig an Alex' Ärmel wie ein überdrehter Welpe.

„Komm schon, Alex, lass uns hier raus!“ Lucas vibrierte förmlich vor Energie. „Mom wird ewig weg sein, und hier gibt es so viele coole Sachen. Sie haben alles – wir müssen es uns ansehen!“

Das erregte sofort Lilys Aufmerksamkeit. Sie sauste herüber und klammerte sich an Alex' Arm, setzte ihre patentierte kleine Schwester-Charmeoffensive ein. „Bitte, großer Bruder? Ich habe wirklich Hunger... Ich habe recherchiert, bevor wir gekommen sind, und sie bieten den ganzen Tag über Essen an. Jeder sagt, dass ihr Nachmittagstee himmlisch ist. Nimm mich mit?“

Alex blickte kaum von seinem Laptop auf – er hatte das schon von weitem kommen sehen. Seine Geschwister hatten die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen. „Kommt nicht in Frage, Leute. Entscheidet euch für eins.“

Lucas und Lily tauschten Blicke. Cue Lucas' weltklasse Schmollgesicht.

„Echt jetzt?“ jammerte er. „Wann wird Mom endlich dieses ‚Ladies first‘ Ding lassen? Ich darf nie etwas aussuchen!“

Lily schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Pech gehabt, Bruder. Das gehört dazu, ein Gentleman zu sein!“

Alex griff rüber und zerzauste seinem Bruder die Haare. „Beruhig dich, du bekommst deine Chance, wenn Mom zurück ist. Jetzt...“ Er grinste auf seinen Bildschirm. „Versorgen wir Lily mit Snacks. Außerdem habe ich eine spezielle Aufgabe für sie danach.“

„Eine Aufgabe?“ Lilys Ohren stellten sich praktisch auf, als sie näher heranrückte. „Was für eine Aufgabe?“

Alex zeigte auf einen blinkenden Punkt auf seinem Bildschirm. „Schau dir das an. Ich habe einen Tracker in Moms Koffer geschmuggelt, bevor wir unseren kleinen Tausch gemacht haben. Ich habe gerade eine Spur verfolgt, und rate mal? Der Koffer ist genau hier in diesem Hotel. Das bedeutet...“ Er pausierte dramatisch, „Mr. Big Shot CEO von Haven Enterprise ist wahrscheinlich auch hier.“

Lilys Gesicht verzog sich vor Verwirrung – offensichtlich war sie nicht über ihre Flughafen-Schlitzohren informiert.

Lucas sprang ein, die Worte sprudelten aus ihm heraus, als hätte er viel zu viel Zucker gegessen, und erklärte ihren Masterplan.

Als er fertig war, strahlte Lily wie ein Weihnachtsbaum. „Moment mal – sagst du, der Typ, der vielleicht unser Dad ist, ist, wie, genau hier im Hotel?“

Alex nickte, die Räder in seinem Kopf drehten sich bereits. „Folgendes wird passieren: Nachdem wir Essen geholt haben, musst du deinen Charme spielen lassen und irgendwie in seine Nähe kommen. Spiel die verlorene Kind-Karte. Wenn Mom später auftaucht, bringe ich sie, um dich ‚zu finden‘. Boom – sie müssen sich treffen!“

Lily hüpfte vor Aufregung, das Essen völlig vergessen. „Ich habe das, großer Bruder! Mission angenommen!“

Alex tätschelte sanft ihre Wange, sein sonst ernstes Gesicht weich werdend. „Das ist meine Mädchen.“

„Aber hört gut zu,“ fügte er hinzu, wieder ernst werdend. „Wir müssen das klug angehen. Mom ist seit fünf Jahren alleine unterwegs und schuftet sich ab, um sich um uns zu kümmern. Glaubt ihr nicht, es ist an der Zeit, dass sie eine Pause bekommt?“

Die anderen beiden wurden ganz still und nickten wie kleine Erwachsene. Für eine Gruppe von Fünfjährigen waren sie erschreckend wahrnehmend. Sie hatten gesehen, wie ihre Mom sich abmühte, ihr Leben von Grund auf neu aufzubauen. Sie hatten diese Momente eingefangen, in denen sie abschweifte, verloren in den Erinnerungen, die sie fest verschlossen hielt.

„Also gut,“ beendete Alex das Gespräch und klappte sein Tablet mit einem Klick zu. „Operation Mom's Glück ist offiziell gestartet.“

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Zwanzig Minuten später stand Irene vor den Toren von Sterling Manor. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als die Erinnerungen an diesen demütigenden Tag vor fünf Jahren über sie hereinbrachen. Aber sie war bereit dafür. Sie war bereit für alles.

Das Geräusch eines schicken Autos, das über den Kiesweg fuhr, riss sie aus ihren Gedanken. Richard Vein stieg aus und sah aus, als ob er gerade von einem GQ-Cover heruntergekommen wäre, in seinem maßgeschneiderten Anzug. Seine Augen glitten anerkennend über Irene, eindeutig erfreut über das, was er sah - das elegante Designerkleid, die perfekt gestylten Haare, die selbstbewusste Pose. Fünf Jahre hatten das unbeholfene Mädchen aus der Vorstadt in eine anspruchsvolle Frau verwandelt, und getreu seiner oberflächlichen Natur erkannte Richard sie überhaupt nicht. Er sah nur das Äußere: eine atemberaubende Fremde, die es wert war, verfolgt zu werden.

„Hey da!“ Er blitzte mit dem einstudierten Lächeln, auf das sie früher hereingefallen war, und schaltete den Charme ein wie einen Lichtschalter. „Suchst du die Sterlings?“

Irene spürte, wie sich ihr Magen umdrehte, und zwar nicht auf die gute Art. Vor fünf Jahren, frisch aus der Vorstadt und völlig überwältigt von all diesem Reichtum und Privileg, hatte sie gedacht, Richard sei im Grunde Gottes Geschenk an die Frauen. Von wegen rosarote Brille - sie hatte seine ganze Show geschluckt, mit Haut und Haar. Und jetzt war er hier und machte ihr Avancen, nur weil sie wie ein Mitglied der High Society aussah, ohne zu ahnen, dass sie die gleiche Frau war, die er einst als zu unsophisticated befunden hatte, um sie zu heiraten.

Seine Worte von damals trafen sie wie ein Eimer Eiswasser: „Glaubst du wirklich, ich würde jemanden wie dich heiraten? Werde realistisch - sieh in den Spiegel. Du bist eine wandelnde Peinlichkeit. Ich habe nur nett gespielt wegen unserer Familien. Jetzt bist du beschädigte Ware, und du erwartest immer noch, dass ich dich will? Verschwinde! Und wenn wir uns jemals wiedersehen, tu so, als ob du mich nicht kennst.“

Und jetzt war er hier und versuchte, seinen Charme bei einer Frau zu spielen, die er nicht einmal erkannte - es stellt sich heraus, dass Karma Humor hat. Irene machte sich nicht einmal die Mühe, ihm die Zeit des Tages zu geben.

„Miss Irene!“ Eine Stimme, die sie tatsächlich hören wollte, rief. James, ihr Butler seit Ewigkeiten, kam den Weg heruntergeeilt, echte Freude in seinem Gesicht. „Gott sei Dank, dass Sie hier sind. Der alte Herr hat die Wände hochgeklettert und auf Sie gewartet.“

Richards glatte Operator-Maske brach wie billige Farbe. „Moment mal - hast du gesagt...?"

„Das ist Miss Irene Sterling,“ verkündete James, schaffte es, förmlich zu klingen, während er im Grunde das Mikro fallen ließ, „die wahre Sterling-Erbin selbst!“

Der Ausdruck auf Richards Gesicht war unbezahlbar - als hätte ihn jemand in der Öffentlichkeit entblößt. Der ganze glatte Charme verpuffte, als er endlich erkannte, wen er versucht hatte anzubaggern. Er stolperte tatsächlich rückwärts, der Mund klappte wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Irene warf ihm einen eiskalten Blick zu, nur um zu verdeutlichen, wie völlig irrelevant er für sie jetzt war. Vor fünf Jahren fühlte sich die Trennung von ihm an, als würde ihre Welt untergehen. Jetzt? Er war kaum noch auf ihrem Radar.

„James,“ sagte sie herzlich zu dem Mann, der sie unterstützt hatte, selbst als alles schief lief, „es ist so schön, dich zu sehen.“

Sie ging mit James zum Herrenhaus hinauf, den Kopf hoch erhoben. Sie war nicht mehr das sternenäugige Mädchen, das verzweifelt wollte, dass die coole Menge sie mochte. Sie war Dr. Irene Sterling - eine großartige Chirurgin, eine erstaunliche Mutter von drei genialen Kindern. Lasst sie alle einen Blick darauf werfen - sie war zurück zu ihren eigenen Bedingungen, stärker als je zuvor.

Hinter ihr stand Richard immer noch wie eine Statue da und sah zu, wie seine sorgfältig aufgebaute Welt der sozialen Überlegenheit zusammenbrach, als ihm klar wurde, wie sehr er vor fünf Jahren versagt hatte. Aber Irene verschwendete keine Zeit damit, zurückzublicken. Sie hatte größere Fische zu fangen als alte Dramen und längst vergangene Geschichten.

Und während Irene sich mit den Geistern ihrer Vergangenheit im Sterling Manor auseinandersetzte, setzten im Grand Hotel drei kluge Kinder leise ihre eigenen Pläne in Bewegung.

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