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Kapitel 2: Teile, die an ihren Platz kommen

Irene hatte geschworen, nie wieder nach Silver City zurückzukehren.

Fünf Jahre lang hatte sie sich in R Country ein neues Leben aufgebaut, unter dem Radar geflogen und ihre brillanten Kinder großgezogen. Sie hatte keinerlei Absicht gehabt, jemals wieder einen Fuß in diese glitzernde Metropole zu setzen, wo der Name Sterling Türen öffnete und Karrieren mit gleicher Leichtigkeit zerstörte.

Doch dann kam der Brief.

Die persönliche Sekretärin ihres Großvaters hatte mit zitternden Händen geschrieben – die Gesundheit des alten Sterling-Patriarchen verschlechterte sich. Drei Krankenhausaufenthalte allein im vergangenen Monat. Ärzte ratlos. Ihr Vater John hatte mit einer knappen E-Mail nachgelegt und sie aufgefordert, zurückzukehren, um offiziell die Verbindung zu Richard zu kappen, aber es war der Zustand ihres Großvaters, der schließlich das Zünglein an der Waage war.

Sie schuldete ihm alles. Als der Schwangerschaftsskandal vor fünf Jahren explodierte, hatte nur er zu ihr gestanden, ihre Flucht nach R Country arrangiert und dafür gesorgt, dass sie und die Drillinge nicht hungern mussten. Jetzt brauchte er sie – nicht nur als seine Enkelin, sondern als die talentierte Chirurgin, die sie geworden war.

Und so war sie hier, beobachtete die vertraute Skyline von Silver City durch das Fenster der Business Class, ihr Spiegelbild geisterte gegen die dunklen Wolken darunter. Ein sanftes Ziehen an ihrem Ärmel holte sie in die Realität zurück. „Mama?“ Alex, ihr Ältester, sieben Minuten älter als die anderen, blickte sie mit diesen niedlichen Augen an. Sein engelsgleiches Gesicht, mit dunklen Locken und Grübchen, die die Flugbegleiterinnen entzückten, verbarg die scharfe Intelligenz hinter seinem Blick. „Machst du dir Sorgen um Urgroßvater?“

Bevor sie antworten konnte, meldete sich Lucas von ihrer anderen Seite, sein kleines Gesicht todernst. „Die Silver City Chronicle sagt, er war diesen Monat dreimal im Krankenhaus.“

„Wie hast du—“ Irene begann, schüttelte dann mit einem trockenen Lächeln den Kopf. Natürlich. Die Fähigkeit ihres mittleren Kindes, jede Information zu finden, die er wollte, überraschte sie schon lange nicht mehr. „Wir haben über Hacking gesprochen, Kleiner.“

„Es war kein Hacking“, protestierte Lucas, das Bild der Unschuld mit großen Augen. „Es stand im Abonnentenbereich.“

„Den du abonniert hast?“ Irene zog eine Augenbraue hoch.

Ein kleines Räuspern von Lily, ihrer Tochter und jüngster Drilling, unterbrach die kreative Erklärung, die Lucas offensichtlich liefern wollte. „Mama, sollten wir nicht darüber sprechen, was wir Urgroßvater sagen sollen? Wir haben ihn noch nie persönlich getroffen.“

Irenes Gesicht weichte. „Erinnert euch einfach an das, was wir geübt haben“, sagte sie und glättete Lilys dunkle Locken. „Er ist altmodisch, aber er hat ein gutes Herz. Seid einfach ihr selbst – respektvoll, aber natürlich.“

„Wir werden dich stolz machen, Mama“, versprach Alex und straffte seine kleinen Schultern. Mit fünf Jahren trug er sich bereits mit einer Ernsthaftigkeit, die ihr manchmal das Herz brach. Alle drei waren viel zu schnell erwachsen geworden, viel zu bewusst darüber, wo sie in der Welt standen.

„Ihr macht mich jeden Tag stolz, Schatz. Jeden einzelnen Tag.“ Sie berührte jedes ihrer Gesichter und staunte wie immer darüber, dass sie ihr dunkles Haar geerbt hatten.

„Mama?“ Alex' Stimme war zögernd geworden. „Bleiben wir... bleiben wir in Silver City? Nach Urgroßvater?“

Irene wählte ihre Worte sorgfältig. „Vorerst ja. Urgroßvater braucht medizinische Hilfe, und ich möchte für ihn da sein.“ Als erstklassige Chirurgin – obwohl nur eine Handvoll Leute ihren Ruf kannten – wusste sie, dass sie den Zustand des alten Mannes verbessern konnte.

„Dann vielleicht...“ Alex tauschte schnelle Blicke mit seinen Geschwistern, ein stilles Gespräch fand zwischen ihnen statt. „Vielleicht solltest du über Mr. Havens Angebot nachdenken?“

Irene versteifte sich. „Woher wisst ihr davon?“

„Ich habe es in den Foren des Dark Web entdeckt“, erklärte Alex, seine süße, kindliche Stimme stand im krassen Gegensatz zu seinen Worten, während er seinen Teddybär fester umarmte. Seine Augen leuchteten vor Aufregung auf und ließen ihn kurz wie einen normalen Fünfjährigen aussehen, anstatt wie das Wunderkind, das zwischen Nickerchen und Saftpausen Unternehmens-Firewalls knacken konnte. „Haven Enterprise hat dieses verschlüsselte Ding gepostet – eine Million Dollar für ein paar Beratungen mit ihrem CEO. Die Nachricht macht in einigen super exklusiven Hacker-Kanälen die Runde. Das ist ernsthaftes Geld, Mama.“

„Das wir wirklich gebrauchen könnten“, fügte Lily leise hinzu und spielte nervös mit ihrem Armband. „Vor allem, weil...“

„Weil mein Tech-Aktienportfolio einige Verluste erlitten hat“, beendete Lucas den Satz, plötzlich von seinen Schnürsenkeln fasziniert. Das Ebenbild kindlicher Unschuld in seinem Matrosenanzug und mit ordentlich gekämmtem Haar hätte er direkt aus einem Kinderbekleidungskatalog stammen können – wenn da nicht das komplexe Finanzjargon gewesen wäre, das mühelos aus seinem kleinen Mund floss.

Irene verengte die Augen. Ihre Kinder waren brillant, aber subtil? Nicht wirklich. „Dasselbe Portfolio, das letzten Monat noch 40 % im Plus war?“

Drei identische unschuldige Gesichter blickten sie an, ihre engelsgleichen Ausdrücke – noch immer von Babyspeck rundlich – verbargen Köpfe, die den meisten Erwachsenen weit überlegen waren. Sie seufzte, wohl wissend, welches Spiel sie spielten. Seit der mysteriöse CEO von Haven Enterprise diese lächerliche Beratungsgebühr gepostet hatte, hatten sie sie ständig dazu gedrängt, es anzunehmen. Sie vermutete stark, dass sie ihre eigene Agenda hatten – eine, die nichts mit Geld zu tun hatte und alles mit ihren fortlaufenden Ermittlungen darüber, wer ihr Vater sein könnte.

„Wir reden darüber, nachdem wir uns eingelebt haben“, sagte sie entschlossen. „Jetzt konzentrieren wir uns auf—“

Ein Ruck durch Turbulenzen schüttelte das Flugzeug und brachte die Kinder zum Kichern. Irene lächelte, aber ihre Gedanken drifteten zu dem, was sie in Silver City erwartete. Anna Claire würde zweifellos immer noch dort sein, das Mädchen, das durch eine Krankenhausverwechslung zwanzig Jahre lang versehentlich Irenes Platz in der Sterling-Familie eingenommen hatte. Jetzt legal die adoptierte Tochter der Sterlings, hatte Anna Irene nie verziehen, dass sie aufgetaucht war und ihr Geburtsrecht zurückgefordert hatte.

Und John... ihr Vater nur dem Blut nach, der sie vor fünf Jahren ohne mit der Wimper zu zucken vor die Tür gesetzt hatte.

In der Ersten-Klasse-Kabine vorne näherte sich Thomas mit bedachten Schritten dem Sitz seines Chefs. Der CEO von Haven Enterprise saß da und überprüfte Dokumente auf seinem Tablet, sein scharfes Profil wurde von der sanften Beleuchtung der Kabine hervorgehoben. Dunkles Haar fiel lässig über seine Stirn und umrahmte Augen, die fast zart hätten wirken können, wären da nicht ihre laserartige Intensität gewesen.

„Sir, wegen des Arztes...“

„Kein Erfolg?“ Adams Havens Stimme war leise, trug aber ein unverkennbares Gewicht der Autorität.

„Nein, Mr. Haven. Der Spezialist scheint vor fünf Jahren vollständig verschwunden zu sein. Wir haben jede medizinische Konferenzliste, jede Privatklinik überprüft. Es ist, als wäre er vom Erdboden verschluckt.“

Adams lange Finger klopften einmal gegen die Armlehne – der einzige Hinweis auf seine Frustration. „Verdoppeln Sie das Angebot. Verdreifachen Sie es, wenn nötig.“ Als Thomas sich zurückzog, wandte sich Adam dem Fenster zu, sein Spiegelbild zeigte Züge, die auf unzähligen Magazincovern gelandet waren – die gerade aristokratische Nase, die wohlgeformten Lippen, die markanten phönixartigen Augen, die in einem Augenblick von glühend zu eiskalt wechseln konnten.

Das Flugzeug neigte sich leicht und begann seinen Sinkflug nach Silver City. Und irgendwo unten, in einem stattlichen Herrenhaus am Stadtrand, saß ein alter Mann in seinem Arbeitszimmer, sah auf seine Uhr und erlaubte sich ein kleines, zufriedenes Lächeln. Die Teile fügten sich endlich zusammen.

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