




2
Savannahs Perspektive
Ich warf meiner Schwester einen letzten Blick zu.
„Mach bloß nichts Dummes, während ich weg bin.“
Sie lachte.
„Ich verspreche, ich benehme mich.“
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Das letzte Mal, als du das gesagt hast, Selena, hast du einem Typen ein Bierglas an den Kopf geworfen.“
Sie verzog die Lippen zu einem gespielten Schmollmund und tat beleidigt.
„Er hat gesagt, ich hätte einen tollen Hintern, Savannah. Ich fand das unglaublich respektlos“, entgegnete sie. „Und außerdem … ist mir das Glas irgendwie aus der Hand gerutscht.“
„Und direkt in seinen Kopf geflogen?“
„Genau“, stimmte sie zu, völlig schamlos.
Sie hatte ihre erste Wandlung noch nicht durchgemacht, aber sie war nah dran. Ihr Körper zeigte bereits Anzeichen: ungewöhnliche Stärke für jemanden ihrer Größe, ein hitziges Temperament und ein schärferer Geruchssinn.
„Bitte … halt die Gläser einfach fern von den Köpfen gruseliger alter Kerle“, flehte ich.
Beim letzten Mal hatte sie den Typen nur k. o. geschlagen. Es war so schnell und kraftvoll gewesen, dass niemand gesehen hatte, woher das Glas kam oder wer es geworfen hatte. Nur das hatte sie davor bewahrt, entdeckt zu werden.
„Ich verspreche, ich versuch’s.“
Ich ließ ein leises Knurren hören.
„Bitte, Selena. Ich kann nicht gleichzeitig vor Hunters Männern verstecken und mir Sorgen um dich machen.“
Sie verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge.
„Na gut. Ich verspreche es.“
Ich seufzte.
„Ich hab dich lieb, Sel. Bis bald.“
„Hab dich auch lieb, Sava.“
Lächelnd wandte ich mich dem Wald zu und ging von der Hütte weg, ließ meine Schwester hinter mir zurück.
Der Rucksack auf meinen Schultern war leicht. Er enthielt ein paar Wechselklamotten, etwas Essen, das ich aus der Bäckerei mitgenommen hatte, in der ich arbeitete, und ein einziges Buch, das ich in einer der Städte, in denen wir unterwegs haltgemacht hatten, aus einer Buchhandlung gestohlen hatte. Es war meine Hauptunterhaltung, und ich hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft ich es gelesen hatte.
Ich beschleunigte meine Schritte, drang tiefer in den Wald ein.
Ich musste einen sicheren Ort finden, um die Nacht zu verbringen, während meine Brunst voranschritt und mein Körper Pheromone absonderte. Je weiter ich ging, desto schwerer würde es für sie sein, meine Spur aufzunehmen.
Ich hörte das Rascheln kleiner Tiere, die in der Nähe huschten, und das Zwitschern der Vögel. Der Wald war in Schatten und Silber gehüllt, während der Mond hell am Himmel strahlte.
Ich umklammerte den Riemen meines abgenutzten Rucksacks fester, als eine Böe mich traf und mir die Haare zur Seite wehte.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, während meine Schritte trockene Äste unter mir zerbrachen.
Falls es zu schlimm wurde, würde ich mich wandeln und die nächsten Tage in meiner Wolfsgestalt bleiben. Das würde die Intensität der Brunst nicht mildern, aber das Überleben im Wald erleichtern.
Ich hatte mich nicht mehr gewandelt, seit wir geflohen waren. Ich vertraute der Gegend nicht genug, um es zu riskieren. Eine Wandlung könnte mich zur leichten Beute für Jäger machen. Und die Hütte, in der wir lebten und die einst einem von ihnen gehört hatte, war eine ständige Erinnerung daran, dass sie in der Nähe waren.
Und das brachte eine weitere Sorge mit sich: Selenas erste Wandlung.
Ich sah mich um, nahm die Umrisse der hohen Baumstämme wahr.
Der Wald war uralt – ich konnte es tief in meinen Knochen spüren. Er strahlte eine Art Macht aus, eine alte Energie, die um mich herum pulsierte.
Ich glaubte, dass es in der Nähe Rudel geben könnte, da das Kraut aus dieser Region stammte, aber ich war mir nicht sicher. Seit unserer Ankunft waren wir keinen anderen Wölfen begegnet.
Eine Hitzewelle traf mich so heftig, dass mir der Atem stockte und ich mitten im Schritt strauchelte. Ich hielt den Atem an.
Ich atmete tief ein, die kalte Luft biss in meine Lungen, dann atmete ich langsam aus, ein zitternder Nebelstrom kräuselte sich von meinen Lippen in die Nacht. Ich wiederholte den Vorgang – einmal, zweimal, dreimal –, jeder Atemzug ein verzweifelter Versuch, mich zu beruhigen, meine zerfasernde Kontrolle zu festigen, während mein Körper am Rande des Zusammenbruchs taumelte.
Meine Muskeln schrien vor Erschöpfung, jedes Gelenk schmerzte, als könnte es jeden Moment zersplittern, aber ich durfte noch nicht aufhören.
Ich war noch zu nah an Selena, ihre zerbrechliche Sicherheit hing an der Distanz, die ich zwischen uns bringen konnte.
Wenn sie jetzt meinen Geruch aufnahmen – roh und unverhüllt –, würden sie ihm direkt zu ihr folgen, und alles, wofür ich gekämpft hatte, würde in einem Augenblick zunichte gemacht werden.
Also rannte ich. Ziellos, rücksichtslos, meine Füße hämmerten auf die Erde, während ich mich einem blinden, ursprünglichen Instinkt ergab, den ich nicht benennen konnte. Der Wald verschwamm um mich herum – dunkle Stämme und knorrige Äste peitschten in einem Schattennebel an mir vorbei –, und doch fühlte es sich auf eine seltsame, unerklärliche Weise an, als wären meine Schritte nicht zufällig.
Etwas zog an mir, ein Flüstern in meinem Blut, das mich vorwärts lenkte, mich zu einem Ziel – oder vielleicht zu jemandem – führte, den ich noch nicht sehen konnte.
Ich ließ es mich führen, vertraute dem Wolf in mir, wenn mein Verstand keine Antworten mehr hatte.
Die Zeit verlor jede Bedeutung, während ich tiefer in die Wildnis eintauchte. Minuten dehnten sich zu Stunden, oder vielleicht waren es nur Sekunden – mein Zeitgefühl war verzerrt durch das unerbittliche Brennen in meinen Beinen und das raue Kratzen in meinem ausgetrockneten Hals.
Schweißperlen standen auf meiner Stirn, rannen trotz der kühlen Luft, die an der Haut haftete, an meinen Schläfen hinab und brannten in meinen Augen, während ich weiter voranstürmte. Ich hielt nicht inne, nicht als mein Atem zu keuchenden Stößen wurde, nicht als mein Blickfeld von dunklen Flecken durchzogen wurde.
Der Wald wurde dichter um mich herum, das Unterholz zerrte an meinen Knöcheln, doch ich kämpfte mich weiter, getrieben von dem verzweifelten Bedürfnis, Selenas Spur unter Schichten von Distanz zu begraben, die kein Wolf je entwirren könnte.
Schließlich blieb ich stehen, meine Beine gaben ebenso aus Erschöpfung wie aus Absicht nach.
Eine mächtige Hitzewelle brach über mich herein, plötzlich und gnadenlos, sie sengte durch meine Adern wie flüssiges Feuer. Meine Pupillen weiteten sich, die Welt schärfte sich in lebhafter Klarheit, und ein starker, unkontrollierbarer Duft strömte aus mir heraus – schwer von Pheromonen, ein urtümlicher Ruf, der in die Nacht hinaus sang und jeden Alpha in Reichweite lockte.
Ich konnte es nicht länger zurückhalten; der Damm war gebrochen. Ich fiel auf die Knie, meine Handflächen schrammten über scharfkantige Steine, als ich auf den Boden aufschlug, die rauen Kanten gruben sich in meine Haut.
Ein leises Stöhnen entfuhr mir, vermischt mit einem schwachen, unwillkürlichen Schnurren, das in meiner Brust vibrierte – ein Laut, den ich kaum als meinen eigenen erkannte.
Götter, das war so viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte.
Die Hitze war nicht nur ein Unbehagen; sie war ein lebendiges Wesen, das von innen an mir kratzte und eine Erlösung forderte, die ich nicht geben konnte. Ich hob mein Gesicht zum Himmel, die Lippen öffneten sich zu einem abgehackten Keuchen, und ich spürte, wie meine Augen aufflammten, in einem lebhaften Smaragdton leuchtend, der schwaches Licht auf die Blätter um mich warf.
Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, ein tiefer, glühender Schmerz, als würde ich von innen schmelzen, als würde mein Mark unter der Belastung zu flüssigem Zustand zerfließen.
Eine weitere Welle von Pheromonen strömte aus mir heraus, schwer und berauschend, sie sättigte die Luft.
Ich krallte mich in die Erde, versuchte aufzustehen, doch meine Beine gehorchten nicht, zitterten wie die eines neugeborenen Rehkitzes. Ich brauchte Wasser – einen Fluss, einen Bach, irgendetwas Kaltes, um dieses Inferno zu löschen, das in mir tobte.
Vielleicht könnte der Schock eisiger Strömungen die Hitze dämpfen, mir Zeit zum Nachdenken verschaffen. Ich konzentrierte mein Gehör, schärfte es über das Hämmern meines eigenen Pulses hinaus, über das Rascheln des Windes in den Bäumen, auf der Suche nach dem, was ich brauchte.
Da – genau wie Hunter es mir vor Jahren beigebracht hatte, als ich unter seinem wachsamen Blick zum ersten Mal meine Gestalt wandelte, seine Stimme ruhig, während er mich durch das Chaos meiner neuen Sinne führte.
Das Geräusch von fließendem Wasser erreichte mich, schwach, aber unverkennbar, ein Rettungsanker, der von links rief.
Es war weiter entfernt, als ich gehofft hatte, die Entfernung spottete über meinen geschwächten Zustand, aber nah genug, um es zu erreichen, wenn ich die Kraft aufbringen könnte.
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte erneut, aufzustehen, goss jeden Funken Willen in die Anstrengung. Meine Knie wackelten, die Muskeln zitterten wie Wackelpudding, aber ich zwang mich aufrecht, schwankte, als würde die Erde selbst unter mir kippen.
Ich machte einen Schritt, meine Glieder schwer, als würden sie tausend Tonnen wiegen, dann einen weiteren und noch einen, jede Bewegung ein Kampf gegen die Hitze und die Erschöpfung, die drohten, mich wieder zu Boden zu ziehen.
Das Versprechen von Wasser zog mich vorwärts, ein Leuchtfeuer im Nebel meines Leidens.
Ich war so fixiert auf dieses ferne Plätschern, so verzehrt von dem Bedürfnis, es zu erreichen, dass ich nicht bemerkte, dass jemand näher kam. Ich merkte nicht, dass ich nicht mehr allein war, bis sein Geruch mich traf – ein plötzlicher, überwältigender Schwall von frischem Kiefernduft und feuchter Erde, reich und urtümlich, wie das Herz des Waldes, destilliert in einem einzigen Atemzug.
Mein Blick huschte wild und panisch umher, während mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmerte, der Rhythmus so heftig, dass ich dachte, er könnte meine Brust zersprengen.
Ich atmete tief ein, sog seinen Duft erneut auf, und ein Blitz der Erkenntnis zuckte durch mich hindurch – vertraut, doch unmöglich.
Aber ich kannte ihn nicht. Da war ich mir sicher. Das war nicht Hunters scharfer, metallischer Geruch, noch die moschusartige Vertrautheit eines Alphas, den ich in meinem Rudel gekreuzt hatte. Dieser Duft war anders – einzigartig, uralt, trug ein Gewicht, das in meine Knochen sank und etwas Ruhendes in mir weckte.
Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, spürte ich es tief in meinen Knochen – die Gewissheit, dass er ein Alpha war.
Ein Ast knackte zu meiner Rechten. Ich wirbelte herum, nahm eine raubtierhafte Haltung ein und ließ meine Wolfs instinkte übernehmen.
Ein tiefes, raues Lachen hallte durch die Luft, getragen vom Wind. Es verspottete mich, meine defensive Haltung. Und es ärgerte mich.
Doch in diesem Moment war ich mehr als nur ärgerlich, ich war erregt und stand kurz davor, vor purem Verlangen zu sterben.