




Ein Drache erhebt sich
Visenya wurde durch schrille Schreie aus Synoras Schlafgemach geweckt. Ihr Bett wackelte heftig, der Kronleuchter schwang hin und her, und Staubpartikel fielen von der Decke und erfüllten die Luft um sie herum. Schockwellen durchdrangen die Schlossmauern mit alarmierender Intensität. Visenya kämpfte darum, sich zu stabilisieren, während sie sich zur Tür bewegte und fliegenden Büchern und zerbrochenen Bildern auswich, die über den Boden verstreut waren.
Endlich schaffte sie es hinaus und eilte zu Synora, wobei sie Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten und nicht umgeworfen zu werden. Synoras angsterfüllte Schreie wurden immer lauter, und alles, woran Visenya denken konnte, war, so schnell wie möglich zu ihrer kleinen Schwester zu gelangen. „Ich komme, Synora!“
Visenya riss die Tür auf und fand Synora schreiend unter ihren Decken, das Gesicht von Tränen überströmt. Ohne zu zögern hob sie Synora in ihre Arme und suchte Schutz unter dem kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers.
Sie hielten sich fest umklammert, während Visenya versuchte, ihre verängstigte Schwester zu beruhigen. „Schhhh… Es ist bald vorbei,“ beruhigte sie, während sie sanft den Hinterkopf ihrer Schwester streichelte. Nach einigen angespannten Momenten begannen die Erschütterungen nachzulassen, bis schließlich alles wieder ruhig war.
„Wo ist mein Baby!“ Sarais Stimme hallte durch den Raum, als sie hereinstürzte.
„Mama!“ rief Synora und rannte in die Arme ihrer Mutter.
Caspian eilte in den Raum, seine Augen scannten schnell die Szene. „Ist alles in Ordnung?!“
„Wir sind in Ordnung,“ antwortete Visenya, während sie sich auf die Füße zog. „Caspian, sammle die Wachen und stelle sicher, dass wir keine Todesopfer haben. Diejenigen, die medizinische Hilfe benötigen, bring sie sofort zur nächsten Einrichtung.“
„Wird gemacht,“ nickte Caspian und machte sich bereits daran, Visenyas Befehle auszuführen.
Visenya überprüfte Synora sorgfältig und war erleichtert, sie unverletzt zu finden. Ihre Mutter hingegen hatte eine blutige Wunde an der Stirn. „Mutter, dein Kopf!“
„Es ist nichts… nur ein kleiner Schnitt,“ winkte Sarai ab, während sie sich um Synora kümmerte.
„Es sieht tief aus. Lass mich mal schau…“
„Es ist in Ordnung,“ unterbrach Sarai fest und legte Synora wieder hin. „Ich werde mich darum kümmern, sobald sie wieder schläft… Ich verspreche es.“ Visenya nickte zustimmend.
„Geht es dir gut?“ Sarais Besorgnis war offensichtlich, als sie Visenya musterte.
„Ja, mir geht es gut.“ versicherte Visenya. „Ich hätte das Erdbeben vielleicht verschlafen, wenn mich ihre Schreie nicht geweckt hätten.“
„Danke, dass du sofort zu ihr gekommen bist,“ sagte Sarai dankbar.
„Natürlich, Mutter… sie ist meine Schwester.“
„Danke, Vee,“ drückte Synora ihre Dankbarkeit mit gedämpfter Stimme aus den Armen ihrer Mutter.
„Nicht der Rede wert, kleiner Wolf.“ Visenyas Ton war voller Zuneigung. Sie bürstete den Staub aus ihrem Haar und ging zur Tür. „Ich muss sicherstellen, dass es allen gut geht. Ihr zwei kommt klar?“
„Ja, Liebes. Geh und kümmere dich um deine Alpha-Pflichten,“ bestätigte Sarai.
Mit einem Nicken eilte Visenya davon, um genau das zu tun. Sie hatte in ihrem Leben noch nie ein so starkes Erdbeben erlebt und betete zur Mondgöttin, dass niemand ernsthaft verletzt worden war.
———
Tief unter den Trümmern der einstigen Festung des Drachen, Meilen unter der Oberfläche, regte sich ein junger Drache aus seinem erzwungenen Schlaf. Die Erde bebte heftig um ihn herum und ließ die Felsen, die ihn begruben, sich verschieben. Nach einem Jahrzehnt der Ruhe erreichte endlich frische Luft seine Lungen und vertrieb das schwarze Zaphynit, das ihn im Koma gehalten hatte.
Seine großen, reptilischen Augen öffneten sich und in einer schnellen Bewegung befreite er sich aus den Trümmern. Als er die Erdoberfläche erreichte, verwandelte er sich in seine menschliche Gestalt und brach zu Boden. Trotz seiner Befreiung blieb er durch die Wirkung des schwarzen Zaphynits geschwächt, eines uralten Minerals, das für Drachen tödlich ist, ihre einzige Schwachstelle, und von dem man glaubte, es sei vor Jahrhunderten ausgerottet worden.
Seine Erinnerungen kehrten langsam zurück; das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein lauter, bodenerschütternder Knall über seinem unterirdischen Versteck. Er richtete sich auf und nahm seine Umgebung mit absolutem Erstaunen wahr. Was einst das Drachenreich war, lag in völligen Trümmern.
Eine Welle der Angst überkam ihn, als er versuchte zu begreifen, was geschehen war. War das alles ein Albtraum, aus dem er nicht erwachen konnte? Er ging durch die Ruinen und suchte nach Überlebenden des Angriffs. Seine Suche blieb erfolglos, und die Stille war ohrenbetäubend, bis er Schritte hinter sich hörte.
„Du da, halt!“ rief er und sah einen Mann hinter einem schiefen Gebäude verschwinden.
Der Mann blieb abrupt stehen und drehte sich zu dem Drachen um. „Ich habe nur nach Tieren gesucht, von denen ich mich ernähren kann, ich schwöre!“
Der Drache musterte ihn genau und bemerkte die Stammesmarkierung auf seiner Brust – ein Symbol, das seit Jahren, genau zehn Jahren, niemand mehr gesehen hatte. „Warte mal, du bist kein Lykaner. Du bist ein… nein, das ist unmöglich… das kann nicht sein.“
„Ich bin ein Drache,“ knurrte er, seine Stimme triefend vor Wut, „und ich verlange, dass du mir sagst, was hier zum Teufel passiert ist!“
Die Augen des Mannes weiteten sich vor Staunen. Er stand tatsächlich in der Gegenwart eines Drachen, und nicht nur irgendeines Drachen, sondern eines Drachenlords, wie die Markierung verriet. Der letzte lebende Drache der Welt, und er sah ihn als Retter.
Er eilte herbei und warf sich dem Drachen zu Füßen. „Drachenlord! Mein Retter! Ich schwöre, von diesem Tag an dein treuer Diener zu sein! Alles, was du brauchst, alles, was du willst, ich werde sterben, um es für dich zu bekommen. Bitte… rette uns vor der bösen Lykanerkönigin!“
Der Drache warf einen verächtlichen Blick auf den kriechenden Vampir. „Steh auf,“ befahl er, und der Vampir sprang eifrig auf, bereit, jedem Befehl zu gehorchen.
„Du bist ein Vampir,“ stellte der Drache fest, mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Ja, Drachenlord,“ bestätigte der Vampir.
„Wo sind all die Drachen hin?“
Der Vampir war von der Frage überrascht. „Du bist der einzige Lebende, mein Herr.“
„Was meinst du, ich bin der einzige?!“ Die Stimme des Drachen donnerte, und der Vampir zuckte erschrocken zusammen.
„Die Explosion… sie… sie hat alle im Reich getötet. Ich versuche immer noch zu verstehen, wie du überleben konntest,“ erklärte der Vampir.
Der Blick des Drachen wanderte zurück zu den Trümmern, aus denen er hervorgekommen war, sein Gesichtsausdruck von Verzweiflung erfüllt. Von Trauer überwältigt, taumelte er zurück zu dem Steinhaufen und sank auf die Knie. Verzweifelt begann er, durch die Trümmer zu graben, ein Gefühl des Wahnsinns überkam ihn. Und dann war es da: Fragmente eines Drachenschädels, eines nach dem anderen, jedes Stück eine verheerende Erinnerung an die Tragödie, die sein Volk ereilt hatte. Überwältigt von Kummer konnte er seinen Schmerz nicht zurückhalten und stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, der durch die trostlose Landschaft hallte.
„Ich verstehe es nicht... es braucht mehr als nur ein paar Bomben, um ein ganzes Drachenreich auszulöschen,“ murmelte der Drache, sein Ton von Unglauben durchzogen.
„Nicht, wenn die Bomben mit schwarzem Zaphynit versetzt sind,“ offenbarte der Vampir mit ernster Stimme.
Die Augen des Drachen loderten vor Wut, als er seinen Blick wieder auf den Vampir richtete. „Wer hat das getan?“
„Der Lykanerkönig, Ezra,“ antwortete der Vampir feierlich.
„Wo ist er jetzt?! Ich werde ihn mit bloßen Händen zerreißen!“ brüllte der Drache, seine Rachsucht spürbar.
„Er ist tot, Drachenlord. Es war eine Selbstmordmission. Er und seine Männer kamen mit Bomben an ihren Körpern. Er hat den Drachenkaiser getäuscht, indem er vorgab, einen Waffenstillstand schließen zu wollen, und hat diesen Ort in die Luft gejagt.“
Eine Ader pochte auf der Stirn des Drachen, als Wut durch sein Blut strömte. Sein Volk war von einer minderwertigen Art massakriert worden, und er brannte vor Verlangen nach Rache.
„Seine Gefährtin regiert noch? Du hast mich gebeten, dich vor ihr zu retten?“
„Nein, Drachenlord. Nicht seine Gefährtin. Seine Tochter sitzt jetzt auf dem Thron.“
Der Drache erinnerte sich lebhaft an die Tochter des Lykanerkönigs. Ihr letztes Treffen hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
„Du flehst mich an, dich vor einem sechzehnjährigen Wolfsmädchen zu retten?“
Der Vampir sah den Drachen an und erkannte, dass dieser sich der Zeitspanne seit dem Massaker an seinem Volk nicht bewusst war. „Sie ist nicht sechzehn, mein Herr... Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt.“
„Sechsundzwanzig?! Visenya?! Prinzessin Visenya?! Sie ist sechzehn Jahre alt!“
„Nein,“ schluckte der Vampir. „Sie ist keine Prinzessin mehr. Sie ist jetzt die Lykanerkönigin, und das seit den letzten zehn Jahren. Sie war sechzehn, als sie den Thron bestieg, als ihr Vater dein Volk abschlachtete... als er deine Familie abschlachtete.“
Der Drache war von der Offenbarung des Vampirs überwältigt, schockiert, dass ein Jahrzehnt seit dem tragischen Ereignis vergangen war. Die Tiefe seiner Stimme, der Bart, der sein Gesicht bedeckte – Zeichen der Jahre, die ihm gestohlen worden waren. Mit achtzehn Jahren hatte er nie einen solchen Bart wachsen lassen können. Er war kein Teenager mehr; er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hatte alles verloren.
„Wer regiert an ihrer Seite?“ fragte der Drachenlord durch zusammengebissene Zähne.
„Ähm… Nun, sie hat einen Stellvertreter…“
„Einen König?! Hat sie einen König?!“ Die Stimme des Drachenlords hallte vor Dringlichkeit wider.
„Nein, Drachenlord. Sie hat keinen König genommen. Tatsächlich wird gemunkelt, dass sie keinen Gefährten hat.“
Die Anspannung im Kiefer des Drachen ließ bei dieser Information nach. Er hasste sich dafür, Erleichterung darüber zu empfinden, dass sie keinen anderen geheiratet hatte, denn er hatte vor, Visenyas Leben zur Hölle zu machen. Geblendet von seiner immensen Wut und seinem Schmerz schwor er, dass jemand für die Gräueltaten ihres Vaters bezahlen würde. Wenn er vorher schon wütend auf sie war, hatte dies nun ein ganz neues Niveau erreicht, besonders da er sie für alles verantwortlich machte, was seinem Volk widerfahren war.
„Wohnt der Vampirkönig noch in seinem Schloss?“ drängte der Drache.
„Nein, es ist seit Jahren verlassen, da wir alle gezwungen waren, wegen Nahrung zu migrieren.“
„Gut, ich werde dieses Anwesen für mich beanspruchen. Ich muss essen und meine Kräfte wiederherstellen, bevor ich… der Lykanerkönigin einen Besuch abstatte.“ Er sagte diese letzten Worte mit einem bissigen Ton.
Der Vampir nickte zufrieden und genoss den Gedanken, dass die Lykanerkönigin für ihr Leid zur Rechenschaft gezogen würde.
„Bitte nimm mich mit, Drachenlord,“ flehte der Vampir.
Der Drache musterte ihn einen Moment lang. Der Vampir sah schmutzig und ziemlich kränklich aus. Dennoch entschied er sich, ihn mitzunehmen, da er ihm alles erzählen konnte, was er in den letzten zehn Jahren verpasst hatte.
„Ich werde dich in meiner Klaue tragen. Nur die Privilegierten reiten auf meinem Rücken.“
„Danke, Drachenlord. Übrigens, wie ist dein Name?“
„Lucian, aber du wirst mich Drachenlord nennen.“
Der Vampir sah Lucian ehrfürchtig an. „Drachenlord Lucian, du bist der älteste Nachkomme des Drachenkaisers.“
„War ich,“ antwortete Lucian kurz.
„Nun, es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Möchtest du meinen Namen wissen?“
„Nein.“
Im Handumdrehen verwandelte sich Lucian in seine Drachengestalt und schnappte den Vampir mit einer seiner Klauen, dann flog er in die Nacht hinaus. Auf dem Weg zum verlassenen Vampirreich hielt er an, um sich an einem Bison zu laben, und fühlte sich mit jeder Minute stärker. Schließlich erreichte er das Schloss von König Lazarus mit seinem Reisegefährten, der ihm eine Geschichtsstunde über die letzten zehn Jahre gegeben hatte.
Der Vampir erklärte, wie sein Königreich von einer Armee von Lykanern unter der Führung der siebzehnjährigen Visenya angegriffen worden war. Sie kämpfte direkt gegen König Lazarus und hätte ihn beinahe getötet, bis er um Gnade flehte. Sie befreite alle ihre menschlichen Sklaven und verbot die Sklaverei und den Konsum von Menschenblut.
In jener Nacht wurde ein Vertrag unterzeichnet, der den Vampiren nachhaltige Nahrungsressourcen garantierte. Doch angeblich hatte Visenya ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten. Die Vampire hungerten seit fast einem Jahrzehnt und wurden für einen Moment der Schwäche zum Tode verurteilt.
Lucian musste zugeben, dass Visenyas Belagerungs- und Kampfstrategie ziemlich beeindruckend war. Es war ihm auch klar, dass die gesamte Vampirrasse sie verabscheute, und er würde dies zu seinem Vorteil nutzen, um ihr Leid zu verstärken.