




Visenya, Die lykanische Königin
-Zwei Monate zuvor-
"Bringt den Angeklagten herein," befahl Visenya, ihre Stimme gebieterisch und voller königlicher Würde, während sie mit Anmut auf ihrem Thron saß.
Zwei Wachen trugen einen kränklich aussehenden Vampir herein, der zu schwach war, um alleine zu stehen. Der Vampir hob seine Augen zu Visenya, hielt aber den Kopf gesenkt und zischte sie voller Abscheu an.
"Meine Königin," verkündete Caspian, "dieses Wesen wurde dabei erwischt, wie es das Blut eines zwölfjährigen Mädchens aussaugte."
Visenyas Augen brannten vor Wut, als sie den Blutsauger ansah. Wenn sie ehrlich zu sich selbst wäre, würde sie zugeben, dass sie eine tiefe Abneigung gegen Vampire hegte. Für sie war Vampirismus ein bösartiges Virus, das sie am liebsten vollständig ausrotten würde.
"Das Mädchen... hat sie überlebt?" fragte sie, ihren Blick weiterhin auf den Verbrecher gerichtet.
"Nein, hat sie nicht, meine Königin," antwortete Caspian mit ernster Stimme.
Visenya schloss die Augen, ein Schwall von Zorn durchströmte ihre Adern. Der Angriff auf Erwachsene durch Vampire war schon herzzerreißend, aber die gnadenlose Ermordung eines unschuldigen Kindes traf sie ins Mark.
Sie öffnete die Augen und fixierte den abscheulichen Kreatur erneut. "Ich verurteile dich hiermit zum Tod durch Sonnenlicht, drei Sonnenaufgänge von heute," entschied sie und erhob sich von ihrem Thron.
Der Vampir brach in ein manisches Lachen aus, was Visenya in ihrem Schritt innehalten ließ. Ihre Augen musterten das elende Wesen, das offenbar dem Wahnsinn verfallen war.
"Was ist so amüsant?" fragte sie mit einer Mischung aus Wut und Neugier in der Stimme.
Der Vampir verzog das Gesicht zu einem hämischen Grinsen und entblößte seine Reißzähne. "Du verurteilst mich wegen eines einzigen Mordes, während du selbst unzählige begangen hast."
"Ich habe niemanden ermordet," entgegnete Visenya fest.
"Lügen!" brüllte der Blutsauger, seine Worte lösten Unruhe unter den Anwesenden im Gerichtssaal aus. "Jeden Tag sterben meinesgleichen an Hunger unter deiner Herrschaft! Seit Jahren leiden wir unter deiner Hand, während deinesgleichen isst, trinkt und sich vergnügt, euer fröhliches Leben lebt!"
Visenyas Blick verhärtete sich, ihre Entschlossenheit unerschütterlich. "Ich habe Ressourcen für euch alle bereitgestellt. Wenn ihr zu stolz seid, sie anzunehmen, ist das nicht mein Problem," erklärte sie mit ruhiger Autorität.
"Ressourcen?!" höhnte der Vampir. "Du erwartest, dass wir das Blut geschlachteter Rinder konsumieren? Es ist, als würdest du verlangen, dass du Rattenfleisch isst und damit zufrieden bist!"
"Wenn Lycans und Menschen hungern würden, würden wir ohne Klage Rattenfleisch essen," entgegnete Visenya. "Außerdem, selbst wenn wir hungern würden, würden wir niemals junge, unschuldige Mädchen jagen."
"Ich hätte sie nicht getötet, wenn ich nicht von Anfang an unterernährt gewesen wäre!" argumentierte der Vampir.
"Ach ja?" Visenya trat näher an den Parasiten heran, ohne den Blickkontakt zu brechen. "Ich erinnere mich daran, wie es war, als Drachen die Welt beherrschten. Menschen waren gleichbedeutend mit dem Dreck unter ihren Füßen, und euer eigener König unterstützte ihre Versklavung und barbarische Behandlung. Sie wurden als nichts weiter als Eigentum angesehen, um all eure perversen Wünsche auszuleben. Keiner von euch kümmerte sich, ob einer starb, oder zwei, oder drei, oder hundert... aber diese Schreckensherrschaft ist jetzt vorbei. Solange ich Königin bin, werden Menschen wie alle anderen behandelt, und wenn jemand die Gesetze bricht, die ich zum Schutz der Menschen erlassen habe, wird er entsprechend bestraft."
"Deshalb hat deinesgleichen alle Drachen abgeschlachtet?" höhnte er.
Visenya biss die Zähne zusammen, ihre Stimme vor Wut angespannt, als sie erwiderte, "Niemand, der heute lebt, hatte damit etwas zu tun."
"Deinesgleichen hat die Drachen abgeschlachtet, und jetzt wollt ihr auch die Vampire ausrotten!" warf er ihr vor.
Visenya stand aufrecht, ihre Stimme fest. "Deine Anschuldigungen haben kein Gewicht, und ich bin hier nicht diejenige, die vor Gericht steht! Wachen... bringt ihn weg!"
"Wir werden wieder aufsteigen, und dann wirst du uns zu Füßen kriechen!" rief er. "Wir werden dich benutzen, bis du nichts weiter als eine abgenutzte Hure bist! Du wirst sehen! Du wirst um Gnade betteln! Eine Gnade, die niemals kommen wird!"
Er schrie seine unsinnigen Worte, während er von Visenyas Wachen aus dem Gerichtssaal gezerrt wurde. Seine Schreie und sein wahnsinniges Lachen hallten bis hinunter in den Kerker und blieben in der Luft hängen. Visenya verließ den Gerichtssaal, ihre Finger gegen ihre Schläfen gedrückt, um die aufkommenden Kopfschmerzen sanft zu massieren.
"Lass diesen Blutsauger nicht an dich herankommen," tröstete Caspian, als er ihr eilends folgte.
"Du weißt, wie sehr es mich stört, wenn wir für das verantwortlich gemacht werden, was mein Vater und seine Infanterie getan haben," sagte sie, ihre Stimme von Frustration durchzogen. "Es ist, als müsste ich seine Verbrechen für den Rest meines Lebens tragen."
"Ich denke, dein Vater hat uns einen Gefallen getan," sagte Caspian und versuchte, eine andere Perspektive anzubieten. "Die Welt ist viel besser ohne diese feuerspeienden Echsen."
"Mein Vater hat Völkermord begangen, Cas," entgegnete Visenya fest. "Ich billige das nicht. Tausende von Menschen starben an diesem Tag, Drachen und Menschen zusammen. Was er tat, war falsch und zutiefst beunruhigend."
"Lass es los, Vee. Es ist zehn Jahre her, du kannst nicht zulassen, dass es dich weiterhin auffrisst," drängte Caspian, seine Stimme voller Besorgnis. "Deine Emotionen haben immer dein besseres Urteilsvermögen bestimmt, aber du musst lernen, sie beiseite zu schieben und das größere Bild zu sehen. Die Handlungen deines Vaters haben zu Weltfrieden geführt, etwas, das diese Welt noch nie gekannt hat."
"Früher oder später hat alles seinen Preis, Cas... alles," sagte sie, ihre Stimme schwer von Last.
Trotz Visenyas Alpha-Abstammung und rauer Fassade blieb ihr Herz ihr Kompass. Es war eine Eigenschaft, die Caspian sowohl in den Wahnsinn trieb als auch ihm ans Herz wuchs. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und waren beste Freunde, solange sie sich erinnern konnten.
Caspian stammte aus starkem Beta-Blut und war daher immer dazu bestimmt, ihr zweiter Befehlshaber zu sein. Als er seinen Wolf traf, wusste er sofort, dass seine Gefährtin tot war. Es gab keine Verbindung, keine Verbindung. Der einzige Trost, den er fand, war die Tatsache, dass er sie nie gekannt hatte. Er würde nie wissen, wie sie starb, aber er vermutete, dass es gewesen sein musste, als sie sehr jung war.
Als Visenya sich das erste Mal in ihren Wolf verwandelte, wusste sie tief in ihrem Inneren, dass ihr Gefährte irgendwo da draußen war... sie konnte ihn spüren. Trotz zahlreicher Bankette und Feste, zu denen sie Lycans und Menschen aus allen Ecken des Königreichs einlud, hatte sie nie ihren vorherbestimmten Gefährten getroffen. Zehn lange Jahre hatte sie treu auf ihn gewartet, nur um mit Enttäuschung und einem quälenden Gefühl der Sehnsucht konfrontiert zu werden.
Ihre Mutter hatte sie seit mehreren Jahren angefleht, ihre Suche aufzugeben und stattdessen Caspian zu heiraten. Aber Visenya hatte sich immer wieder stur geweigert, bis selbst Caspian sie bat, es sich noch einmal zu überlegen.
Visenya liebte Caspian und konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Sie konnte auch seine unbestreitbare Attraktivität nicht leugnen - der große, muskulöse Körperbau, das wellige, schmutzig blonde Haar, das sein Gesicht perfekt umrahmte, und diese durchdringenden blauen Augen, die jede Frau schwach in den Knien werden und davon träumen ließen, seine Geliebte zu sein.
Es gab jedoch ein unbestreitbares Problem—Caspian war nicht ihr Gefährte. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn mit der gleichen Intensität und Verbindung zu lieben, die sie sich wünschte, mit ihrer Seelenverwandten zu teilen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Caspian sie gut behandeln würde, wie er es immer getan hatte, und sie erkannte die Tiefe seiner Gefühle, die über bloße Freundschaft hinausgingen.
Visenyas Einschätzung von Caspians Zuneigung zu ihr war zutreffend; er war unbestreitbar bis über beide Ohren in sie verliebt. Er fand ihre unvergleichliche Schönheit faszinierend, mit ihren großen, goldbraunen Augen und den lockigen Haaren, die ihr anmutig bis zur Taille fielen. Oft träumte er davon, ihre vollen Lippen leidenschaftlich zu küssen und ihre weiche, olivfarbene Haut zärtlich zu streicheln.
"Vee, hast du eine Entscheidung über meinen Antrag getroffen?" Caspians Stimme durchbrach die Stille.
Visenya zuckte zusammen, als hätte Caspians Frage ihr körperlichen Schmerz zugefügt. Sie war gerade dabei, sich in die Privatsphäre ihres Schlafzimmers zurückzuziehen, ihre Hand bereits am Türknauf, als er die Frage stellte, die sie noch einen Tag hinauszögern wollte. "Cas... ich bin müde. Lass uns morgen darüber sprechen."
"Du sagst immer morgen, morgen, morgen. Nun, es ist jetzt morgen, Visenya, und ich verdiene eine Antwort," beharrte er.
"Cas... ich..." Sie zögerte, ihre Stimme verklang.
Bevor Visenya eine weitere Ausrede vorbringen konnte, nahm Caspian ihre Hand in seine und ging vor ihr auf ein Knie. Er blickte mit überwältigender Liebe in ihre großen, braunen Augen und tat dann etwas, das sie nie von ihm erwartet hätte.
"Visenya, alles an dir fasziniert mich—nicht nur deine offensichtliche Schönheit, sondern auch dein starker Wille und dein schönes Herz," sagte er sanft. "Du bist nicht nur meine beste Freundin, sondern die einzige Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Ich habe an deiner Seite durch dick und dünn gestanden und möchte dies weiterhin als dein Ehemann und der Vater deiner Welpen tun. Ich verspreche, dich jeden Tag wie die Königin zu behandeln, die du bist, bis zu meinem letzten Atemzug. Du und ich sind beide ohne Gefährten, und so seltsam es auch klingen mag, ich glaube, dass das nur bedeuten kann, dass wir füreinander bestimmt sind. Ich liebe dich, Visenya. Bitte sag, dass du meine Frau wirst."
Mit zitternden Händen öffnete Caspian eine kleine Schachtel und enthüllte einen atemberaubenden blauen Saphir-Diamantring. Es war derselbe Ring, den ihr Vater einst ihrer Mutter gegeben hatte, ein Symbol für dauerhafte Liebe und Hingabe. Caspians Antrag war nichts weniger als wunderschön; sie konnte die überwältigenden Emotionen, die in ihr aufstiegen, nicht leugnen. Doch ein anhaltender Schmerz zog an ihrem Herzen, das Wissen, dass derjenige, den sie wirklich ersehnte, diese Worte vielleicht niemals aussprechen würde.
Caspian hatte recht; sie war ohne Gefährten. Zehn lange Jahre hatte sie vergeblich nach ihrem vorherbestimmten Gefährten gesucht. Die Wahrheit war, dass Visenya längst die Hoffnung verloren hatte. Mit sechsundzwanzig Jahren lastete die Verantwortung schwer auf ihren Schultern. Die Welt brauchte einen Lycan-König sowie Erben, um ihr Erbe fortzuführen. Als sie den Ring in seiner zarten Schachtel betrachtete, wusste sie, dass es nur eine Antwort gab, die sie geben konnte.
"Okay, Caspian. Ich werde deine Frau sein," flüsterte sie, ihre Stimme erfüllt von einer Mischung aus Dankbarkeit und Resignation.
"Was?! Ich meine... du wirst?!" Caspians Augen leuchteten vor Freude, als er den Ring schnell auf Visenyas Finger schob.
"Sie hat ja gesagt!" rief er aus, unfähig, seine Aufregung zu verbergen, als er aufsprang.
Visenyas Mutter und ihre kleine Schwester stürmten herein, ihre Gesichter strahlten vor ungebändigter Freude. "Oh, das war also alles eine Inszenierung?" konnte sich Visenya nicht verkneifen, unter ihrem Atem zu murren.
"Oh, hör auf zu jammern," neckte Sarai mit einem schelmischen Glitzern in den Augen. "Ich dachte, du würdest niemals Ja sagen. Ich war sicher, dass du zu einer alten Kuh heranwachsen und für immer allein sein würdest."
Visenya seufzte, ihre Verärgerung war offensichtlich. "Wow, danke, Mutter," antwortete sie sarkastisch.
"Ist Cas jetzt mein Bruder?!" fragte Synora, ihre Augen weit vor Aufregung.
Visenya kniete sich zu ihrer kleinen Schwester hinunter und stupste sie sanft mit dem Finger auf die Nase. "Nun, ich nehme an, wenn wir offiziell verheiratet sind, wird er das sein," erklärte sie mit einem Lächeln.
"Ja! Ich wollte schon immer einen Bruder!" rief Synora aus, ihr Gesicht leuchtete auf.
Caspian, unfähig, seine Freude zu verbergen, hob die kleine Synora in seine Arme und drehte sie herum. "Ich war doch sowieso schon immer dein großer Bruder," sagte er lachend. Mit einem schelmischen Grinsen drehte er Synora kopfüber und kitzelte ihren Bauch, was sie in Lachanfälle versetzte.
Der Klang ihres Lachens erwärmte Visenyas Herz und brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Synora war erst zehn Jahre alt und hatte in ihrem jungen Leben noch nie einen Drachen gesehen. Sie war noch im Bauch ihrer Mutter, als alle Drachen getötet wurden. Für sie waren Drachen nichts weiter als Legenden und Volksmärchen, die nur in ihrer Fantasie existierten.
"Na gut, komm mit, Synora," rief Sarai. "Du musst mir helfen, alles für morgen Abend vorzubereiten."
"Was passiert morgen Abend?" fragte Synora.
"Wir müssen alles für die Hochzeit vorbereiten, natürlich," antwortete Sarai.
"Die Hochzeit?! Mutter! Ich kann nicht morgen heiraten! Wir haben uns gerade erst verlobt!" protestierte Visenya.
"Oh nein, das wirst du nicht," schimpfte Sarai. "Du wirst das nicht weiter hinauszögern. Morgen ist die Hochzeit, und das ist endgültig."
Sarai stürmte davon, während Synora neben ihr herumsprang, und ließ Visenya mit offenem Mund stehen. Sie wandte sich Caspian zu und schenkte ihm einen wütenden Blick, der ihre Gefühle des Verrats deutlich zeigte.
Er näherte sich ihr langsam mit erhobenen Händen in einer Geste der Kapitulation. "Ich hatte keine Ahnung, dass sie die Hochzeit für morgen planen würde, ich schwöre es."
"Aber du hast auch nicht widersprochen!" fauchte Visenya.
"Vee, es ist nur eine Zeremonie... wir heiraten, ich werde zum Lycan-König gekrönt, aber alles andere wird nach deinem Zeitplan geschehen. Ich verspreche, dich zu nichts zu drängen, wozu du nicht bereit bist."
Das schien Visenya ein faires Angebot zu sein. Sie konnte die Zeremonie und die Krönung durchziehen, aber sie brauchte vielleicht noch etwas Zeit, bevor sie sich dazu bringen konnte, mit Caspian das Bett zu teilen.
"Na gut, das klingt vernünftig," gab sie schließlich nach.
"Das wird alles gut werden. Ich verspreche, du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, und morgen wird ein Tag sein, den du nie vergessen wirst," versicherte er.
Caspian beugte sich vor, um Visenya auf die Lippen zu küssen, aber sie drehte ihr Gesicht zur Seite, sodass er dasselbe tat, bis sie sich schließlich auf einen unbeholfenen Wangenkuss einigten. Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, wünschte ihr eine gute Nacht und ging den langen Korridor hinunter.
Visenya fragte sich, ob es immer unangenehm sein würde, solchen körperlichen Kontakt mit Caspian zu haben, oder ob es mit der Zeit leichter werden würde. Sie sagte sich, dass sie das Richtige tat. Wenn sie jemanden heiraten musste, der nicht ihr Gefährte war, dann wäre es doch sicher Caspian, oder?