




3. Der Prinz
Leila wusste, dass es der Prinz war, der den Raum betrat. Sie erkannte ihn sofort und diesmal konnte sie ihn sich genau ansehen.
Obwohl sein dichtes, schwarzes Haar ungeschnitten wirkte, war sie sofort von seiner eleganten Sauberkeit und königlichen Haltung beeindruckt. Er trug eine ordentliche, marineblaue Samtjacke und eine schwarze Hose. Zusammen mit seiner perfekt geformten Nase waren seine Augen so dunkel wie ein Abgrund. Der Druck ihres Blickkontakts war zu viel für sie. Sie senkte schnell ihren Blick und neigte den Kopf.
Der Prinz warf Leila einen kurzen Blick zu, als er an ihr vorbeiging; er schien keine Absicht zu haben, mit ihr zu sprechen. Er nahm einen dicken Stapel Briefe von dem großen Eisenholztisch am Fenster und begann, die Dokumente nacheinander zu lesen.
Das anhaltende Schweigen gab Leila ein wenig Mut, ihn erneut anzusehen. Der Prinz war ein atemberaubend gutaussehender junger Mann, gemeißelt wie ein Diamant. Aber sie hatte noch nie einen strengeren Ausdruck gesehen als seinen. Er war schließlich der Prinz des Drachenkönigreichs, Anführer der königlichen Ritter und Beschützer des Königshafens. Was könnte er nur von einem Mädchen wie ihr wollen?
Ein milder Sonnenstrahl durchdrang eine dicke Wolke und schien direkt durch das Fenster. Der Raum wurde in ein mandarinfarbenes Licht getaucht. Der Schatten des Prinzen erschien auf dem Teppichboden neben ihm.
Erschreckenderweise war es der phänomenale Kopf eines Drachen mit starren Hörnern, einem dicken schlangenartigen Hals und angelegten Flügeln. Leila fühlte, wie ihr Blut gefror. Ihr Schrecken breitete sich von ihren Augen auf den Rest ihres Körpers aus. Keine Sekunde später stand der Prinz plötzlich auf und trat aus dem Sonnenlicht. Sein Schatten verschwand. Er blieb kurz im Dunkeln, dann ging er auf Leila zu.
„Mein Name ist Thorn.“ Er zog einen Stuhl heraus, stellte ihn vor sie und setzte sich darauf. „Und deiner?“
Sein Blick war durchdringend scharf. Leila rückte ein wenig von ihm weg und flüsterte, „Leila.“
Schweigen legte sich über sie.
Thorn betrachtete ihre blauen Flecken, die schäbige Kleidung und ihre nackten Füße. Er zog seine perfekt gepflegten Augenbrauen zusammen. Dann legte er seine Ellbogen auf seine Knie und milderte seinen Blick, „Es tut mir leid wegen dem Ritter von vorhin. Er wurde zur Rechenschaft gezogen, und du wirst ihn nicht wiedersehen.“
Leila nickte, beschämt, dass sie einem Mann erlaubt hatte, sie so zu behandeln.
„Es ist nicht deine Schuld“, sagte Thorn, als ob er ihre Gedanken lesen könnte, „die Schuld liegt ganz bei ihm.“
Leila hielt den Kopf gesenkt und spielte mit dem Saum ihres Kleides.
„Könntest du mir erzählen, warum du geflohen bist?“ fragte Thorn, „Vielleicht kann ich dir dabei helfen.“
Leila schwieg.
Aber der Prinz war noch nicht fertig mit seiner gutherzigen und durchdachten Fragerei – eine seltene Erscheinung für jeden, der ihn kannte. „Ich war bei deinem Zuhause.“
Leila schaute erschrocken auf. Thorn verbarg ein Lächeln in den Mundwinkeln. „Keine Sorge. Ich habe nichts gefunden. Das Haus war leer. Deine Familie muss geflohen sein.“
Tränen stiegen sofort in Leilas Augen. Das gutaussehende Gesicht des Prinzen wurde verschwommen. Ihre Tante und ihr Onkel hatten sich also doch entschieden, sie aufzugeben. Sie waren überhaupt nicht besorgt um ihren Verbleib, sondern liefen um ihr Leben, nachdem sie entlarvt worden waren, dass sie einen Mischling in ihrem Haus beherbergten.
Sie fühlte einen stechenden Schmerz in ihrem Herzen. Bevor sie geflohen war, hatte sie noch ein Zuhause, in dem sie leben konnte, eine Art Familie, auf die sie sich verlassen konnte. Aber jetzt hatte sie nichts mehr.
Thorn wollte ihre Tränen trocknen, hatte aber Angst, sie zu erschrecken. Er zog ein sauberes Taschentuch heraus und legte es sanft auf ihren Schoß. Ihre Tränen machten ihn nervös. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar und versuchte, etwas zu sagen, um Leila aufzumuntern.
Er warf einen Blick auf das Tablett mit dem kaum angerührten Essen. Er schnitt ein Stück Erdbeerkuchen ab und stach mit der Spitze einer goldenen Gabel ein kleines Stück ab. Thorn sagte leicht, „Der Bäcker in der Küche ist ein dicker alter Mann mit einem riesigen Bart. Er hat großartige Arbeit geleistet, es perfekt zu halten, wie er es auch mit diesem Kuchen getan hat.“
Leila hob ihre Augen und betrachtete die Spitze der Gabel. Sie sah einen schwammigen goldenen Boden, der mit weicher rosa Creme und rubinroter Erdbeermarmelade bedeckt war. Sie presste ihre dünnen, weichen Lippen zusammen und spürte eine unerträgliche Leere in ihrem Magen. Endlich hatte der Hunger sie erreicht.
Thorn reichte ihr die Gabel mit dem Stück Kuchen und zog dann den Tisch mit dem Essen näher heran. „Iss. Du bist viel zu dünn.“
Leila gehorchte und begann zu essen.
Der Prinz entspannte sich und kreuzte seine langen, muskulösen Beine an den Knöcheln. Dann nahm er ein ledergebundenes Buch in die Hand und tat so, als würde er lesen. Hin und wieder hob er seine Augen von der Seite und warf einen Blick auf Leila.
Von dem Moment an, als er zur Garnison zurückkehrte, hatte er ihre Anwesenheit gespürt; er wusste, dass sie schreckliche Angst hatte und einer gefährlichen Bedrohung gegenüberstand. Eine unsichtbare Macht führte ihn in den Lagerraum. Er trat die Tür auf und sah sie sofort. Sie war keine klassische Schönheit in einem Reich voller glitzernder Drachen, aber ihr weiches Gesicht und ihre fliederfarbenen Augen waren eine Seltenheit. Die rätselhafte Verbindung zwischen ihnen war stark und mächtig. Ihr Duft war so frisch wie klares Wasser in einem fließenden Bach. Er wusste sofort, dass sie seine Gefährtin war – eine uralte Verbindung, die vor dem Verschwinden der Drachenseelen existierte. Aber da war noch etwas anderes in ihr, etwas Geheimnisvolles und Überwältigendes, das ihm den Atem raubte.
Leila hatte offensichtlich keinen Drachengeist, um all die komplizierten Gefühle wie Thorn zu spüren. Sie hatte die tiefe spirituelle Verbindung zwischen ihnen nicht erkannt, außer vielleicht einem leichten Hauch von Vertrautheit.
Sie war fast mit dem Essen fertig und legte vorsichtig die Gabel hin. Der Prinz sah, dass sie mit dem Essen fertig war, und legte auch sein Buch weg. Er goss ihr einen Krug kalte Milch ein und bemerkte, dass sie nichts getrunken hatte.
Leila nippte an der Milch und hielt dann den Krug mit beiden Händen auf ihrem Schoß. Sie warf einen schnellen Blick auf den Prinzen, der ihr gegenüber saß.
Er starrte auf ihre kirschroten Lippen und deutete auf seine eigenen.
Als Leila bemerkte, dass noch Milchspuren auf ihren Lippen waren, errötete sie und leckte sie schnell mit der Zungenspitze ab.
Thorn verbarg ein Lächeln. „Hast du etwas, das du mich fragen möchtest?“
Leila sah Thorn endlich direkt an und nickte. „Kann ich nach Hause zurückkehren?“
„Warum?“ fragte Thorn, traurig.
„Es ist mein Zuhause. Wo könnte ich sonst bleiben?“ fragte Leila, verwirrt über seine gedankenlose Frage.
Thorn unterdrückte die Antwort, die er ihr geben wollte, und sagte stattdessen: „Es ist jetzt ein leeres Haus. Sie haben alles mitgenommen.“
„Ich werde versuchen, zurechtzukommen,“ sagte Leila sachlich.
Thorn stützte sich auf die Armlehnen und stand auf. Sein Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass sie in diesem heruntergekommenen kleinen Haus bleiben würde. Er konnte es nicht ertragen, seine Gefährtin an einem Ort zu lassen, den er nicht für angemessen hielt. Trotzdem versuchte er, die Situation aus Leilas Perspektive zu sehen. Es wäre zu direkt, sie zu bitten, mit ihm in seinen Palast zurückzukehren, und er wollte sie sicherlich nicht erschrecken. Er brauchte eine andere Strategie. Nach sorgfältigem Nachdenken ging er zur Tür, öffnete sie weit und rief nach Ben.
Irgendwo weit den Flur hinunter hörte Leila Ben antworten und auf sie zulaufen.
Thorn sah Leila mit voller Aufmerksamkeit an und trug wieder seinen üblichen eisigen Ausdruck. „Du kannst zurückgehen, unter einer Bedingung.“
Leila vermutete, dass sie den Mann vor ihr irgendwie verärgert hatte. Er drückte es nicht direkt aus, aber sie wusste, dass er kurz davor war, zu explodieren. Sie hatte keine Ahnung, warum er wütend war; sie wollte nur zurück zu dem Haus ihrer Tante und ein friedliches Leben führen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und sie sehnte sich danach, sich auf ihr kleines Bett zu legen und in ihrem kleinen Zimmer auszuruhen.
Ben hielt abrupt an der Tür an. Thorns plötzliches Rufen ließ fast seine Pferdebürste aus seinen geschickten kleinen Händen rutschen. Der Prinz brüllte ihn selten an. Er vermutete, dass es dringend war und mit dem Mädchen zu tun hatte.
„Mein Prinz?“ fragte Ben und sah abwechselnd zwischen Leila und Thorn hin und her.
Thorn seufzte tief. „Packe einige Notwendigkeiten ein. Ich gehe in die Graue Unterwelt.“ Er sah zurück zu Leila, die offensichtlich erschrocken war, und sagte: „Ich gehe mit dir. Keine Einwände.“