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1. Der Schatten

Der plötzliche Aufprall warf sie zurück. Leila hob ihre Augen, um zu sehen, woran sie gerannt war. Ein großer, starker Ritter mit einem goldenen Schwert und Schild stand vor ihr. Seine Rüstung glänzte im hellen, heißen Sonnenlicht.

Ihr überstürzter Fluchtversuch hatte sie dazu gebracht, mit dem Anführer einer Staffel goldener Ritter zusammenzustoßen, die als goldene Drachen rangierten und direkt den Royals unterstellt waren. Ihre glänzende Rüstung schmerzte in Leilas Augen. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen; alles im Haus ihrer Tante war grau und braun. Sie war fasziniert von dieser Truppe Männer. Der Schild war mit einem wilden Drachen verziert, als würde er seine monströsen Flügel auf dem schönen Stück Waffe lebhaft schlagen. Ihre Schwerter waren lang und scharf. Schon der Anblick der Spitzen ihrer Schwerter ließ Leilas Herz in ihrer Kehle schweben.

Die Menschen auf der Straße versammelten sich, begeistert, das dumme Mädchen zu beobachten, das gerade ein Verbrechen begangen hatte. Selten hatte jemand es gewagt, in die goldenen Ritter zu stolpern – nicht, wenn er seinen Kopf noch auf den Schultern behalten wollte. Als ein Mann aus der Menge einen Blick auf Leilas auffallende Augen erhaschte, schrie er: „Sie ist ein Mischling!“ Alle keuchten und murmelten, während die Menge um sie herum dichter wurde. Niemand hatte je einen echten Mischling gesehen, der von einem Drachen und einem Menschen geboren wurde, geschweige denn ihre verfluchten Augen, die in der alten Legende vorhergesagt wurden. „Das ist unmöglich!“ „Wie kann das sein?“ „Sie ist ein widerlicher Halbblut!“ „Tötet sie!“ „Sie ist eine Schande für unser Drachenblut!“

Leila war verängstigt. Die wilden Gesichter der Fremden und ihr unerklärlicher Hass verwirrten sie. Die Menge war durch ihr plötzliches Auftauchen entfacht. Sie war benommen und meinte sogar, einige Männer würden ihre Zungen herausstrecken und lecken. In ihren Augen lag eine lüsterne und tierische Begierde. Leila erinnerte sich daran, was ihr Onkel letzte Nacht mit ihr gemacht hatte. Es traf sie, dass die Blicke auf den Gesichtern dieser Männer fast genauso waren wie der Blick auf dem Gesicht ihres Onkels zuvor. Wie konnte sie nur so dumm sein, warum hatte sie es nicht früher bemerkt? Sie zog ihre zerlumpten Kleider herunter, um ihre Oberschenkel zu bedecken. Jeder würde zustimmen, dass sie sicherlich eine verlockende Figur hatte.

Was die Ritter betraf, so wirkten sie ziemlich streng und unbeeindruckt. Ihre Gesichter waren hinter goldenen Helmen verborgen. Ein Ritter hinter dem kommandierenden Ritter trat auf sie zu. Er packte sie am Hinterkopf und entblößte Leilas Gesicht. Das heizte die Menge erneut an. „Lila Augen! Kein Drache hat solche Augen!“ „Verbrennt sie! Tötet sie!“ „Sie ist ein böses Omen!“ Der Ritter schleifte sie in Richtung des Kommandanten. Ihr Herz sank. Es gab keinen Ausweg mehr. Der Griff des Ritters war so stark, dass sie sich kaum bewegen konnte. Sie hatte ein schreckliches Gefühl, dass sie sie sicherlich töten würden. Ihre Tanten und Cousins waren aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie mussten sich in der Menge versteckt haben, ohne sich näher heranzuwagen.

Der Ritterkommandant sah Leilas Gesicht und wandte sich an die anderen Ritter, um etwas zu sagen. Leila konnte nicht hören, was sie sagten, aber sie wusste, dass sie mit ihnen mitgenommen werden würde.

„Du musst mit uns kommen“, sagte ein goldener Ritter zu Leila, während er begann, ihre Handgelenke mit einem Seil zu fesseln und es fest zu verknoten. Leila beobachtete die Hände des Ritters, die in einem wunderschönen goldenen Glanz schimmerten. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Tante einmal gesagt hatte, dass sich das Aussehen der Drachenrasse über Nacht verändert hatte, nachdem die Drachengeister verloren gegangen waren. Die hochrangigen Drachenlords, die goldenen und silbernen Nachkommen, hatten glänzende Haut. Was die grauen Drachen betraf, so waren ihre Augen immer noch blassbraun, aber ihr dunkelbraunes Haar glänzte im Mondlicht. Es war das erste Mal, dass Leila goldene Drachen begegnete. Sie versuchte, die Augen des Ritters genau zu beobachten, aber er hob sie auf und warf sie wie einen Sack Kartoffeln über den Rücken eines hohen weißen Pferdes.

Der Ritterkommandant schrie dann die versammelten Bürger an. „Sofort zerstreuen! Zurück, wo ihr wart! Kein Herumspionieren mehr!“ Alle grauen Drachen wandten sich gehorsam ab, nur wenige Augen blieben noch auf Leila gerichtet.

Auf dem Bauch liegend auf dem Pferderücken fühlte sich Leila äußerst unwohl. Das Pferd stieß und ruckelte sie, aber das war das geringste ihrer Probleme. Wohin würden sie sie bringen und was hatten sie vor? Machtlos konnte sie nur still sein und auf ihre Chance zur Flucht warten.

Die Staffel patrouillierte entlang der Straßen von Königshafen. Die Hauptstadt des großen Drachenkönigreichs existierte seit Jahrhunderten. Leila hatte sie immer mit eigenen Augen sehen wollen, aber ihre Tante und ihr Onkel hatten es ihr nie erlaubt und gesagt, es sei gefährlich für ein Mädchen wie sie. Sie sagten ihr, sie sei nicht normal, ein Freak, und dass die Leute draußen ihr Schlimmes antun würden, sie vielleicht sogar töten würden. Ihr ganzes Leben lang war sie im Haus gehalten worden, um zu arbeiten, und hatte nie versucht, wegzulaufen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie nur sich selbst schützten; die Tatsache verbergend, dass sie einen Mischling in ihrem Haus hielten, um Ärger zu vermeiden.

Leila versuchte, einen losen Zügel zu ergreifen, der vom Pferd herabhing, und benutzte ihn, um ihren Körper zu stützen und einen Sturz zu vermeiden. Sie hob den Kopf und betrachtete die vorbeiziehenden Straßen. Die Mehrheit der Bürger waren graue Drachen. Sie schlenderten auf den breiten Straßen, die mit hochwertigem Asphalt gepflastert waren. Entlang der Straßen waren verschiedene Lebensmittelhändler verteilt; graue Drachen gingen ein und aus, trugen eingewickelte Taschen und frische Blumen. Leila sah selten graue Drachen in den teureren Geschäften. Die Kunden waren alle goldene oder silberne Drachen, gekleidet in feine Gewänder. Überraschenderweise stellte Leila fest, dass die weiblichen Besitzer alle silberne Drachen waren, deren Haut mit einem silbernen Glanz schimmerte. Sie hoben sich deutlich von der Menge ab. Genau wie ihre Tante gesagt hatte, waren silberne Drachendamen fein von der Drachen-Gottheit geformt. Sie wurden mit Anmut und Schönheit geboren.

Leila blickte auf den Boden zu einer Wasserpfütze. Sie sah ihre fliederfarbenen Augen, die mit einem verbotenen Funkeln reflektiert wurden. Ihr unordentliches, dickes Haar war verfilzt und hatte nicht den Glanz, den ein grauer Drache haben sollte, und ihre Haut war matt und schlicht, genau wie die eines Menschen. Es war eine schmerzhafte Tatsache, dass sie ein Außenseiter im Drachenreich war. Und jetzt würde sie ihrem Schicksal begegnen.

Die Staffel hielt vor einem stattlichen Herrenhaus an. Leila las den Namen, Die Königliche Garnison, an der Außenseite des Gebäudes. Das gesamte Anwesen wurde von voll ausgerüsteten Rittern und Knappen bewacht. Männer riefen, Schwerter klirrten, und Pferde wieherten. Der ganze Ort war tausendmal größer als das Haus von Leilas Tante, mit einem riesigen Hof, der das Hauptgebäude von allen Seiten umgab.

Leila wurde auf den Boden gehoben und vom Ritterkommandanten ins Innere der Garnison geführt. Vorbeigehende Ritter nickten ihrem Kommandanten zu, überrascht, dass er ein Mädchen mitgebracht hatte.

„Neue Freundin?“ Ein arroganter junger Ritter mit unordentlichem goldenem Haar scherzte. Er kaute auf einem Stück Trockenfleisch, während er auf sie zuging.

„Halt den Mund“, sagte der Kommandant heiser, „Dieser Mischling wurde während unserer Patrouille gefunden.“

„Ernsthaft?“ Der junge Ritter trat näher an Leila heran, um sie besser zu betrachten. „Ihre Haut ist so matt wie die eines Menschen... und sie hat fliederfarbene Augen! Was für ein Wesen bist du, Mädchen?“

Leila trat zurück und senkte den Kopf.

„Ist der Prinz schon zurück?“ fragte der Kommandant schlicht.

„Nein.“ Der junge Ritter stopfte sich das ganze Stück Trockenfleisch in den Mund, was seine Sprache dämpfte. „Habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen.“

„Gut. Jetzt komm mit“, sagte der Kommandant zu Leila und drängte sie vorwärts. Er ließ den jungen Ritter zurück und führte sie in einen riesigen Lagerraum. Dann schloss er die Tür hinter sich.

Der Raum befand sich am äußersten Ende des Erdgeschosses des Herrenhauses. Er war vollgestopft mit allen möglichen Schwertern, Dolchen und Schilden. Leila erhaschte sogar einen Blick auf einige dicke Tierfelle und konservierte Köpfe verschiedener Kreaturen.

„Setz dich.“ Der Kommandant deutete auf ein staubiges Sofa, während er seine goldene Rüstung ablegte. „Ich muss gestehen, du hast sofort meine Aufmerksamkeit auf der Straße erregt. Aber leider wirst du als Mischling zum Tode verurteilt. Und da du so entblößt warst... hatte ich keine andere Wahl, als dich hierher zu bringen. Aber ich kann dir zur Flucht verhelfen – zu einem Preis.“

Leila sah ihn zum ersten Mal richtig an. Sein Gesicht war wunderschön; er hatte eine perfekte Kinnlinie, aber sein Lächeln war lüstern und jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Er legte seine Hand auf Leilas nackten Oberschenkel und fuhr fort: „Wenn du mich ranlässt und still darüber bleibst, dann finde ich einen Weg, dich nachts rauszuschmuggeln, wenn die Ritter alle schlafen.“

Leila sprang vom Sofa auf und wich vor ihm zurück. Sie stolperte gegen ein Holzregal und stieß einen Bärenkopf um, der zur Tür rollte. Der Kommandant verfolgte Leila und fragte: „Du lehnst ab? Ich biete dir eine Chance zu leben!“

Leila schüttelte den Kopf und trat vom Kommandanten weg. Plötzlich von Wut überwältigt, stürzte er sich auf Leila und packte ihre gefesselten Handgelenke.

In diesem Moment wurde die Tür eingetreten. Ein halbnackter Mann, weit über sechs Fuß groß, erschien in der Tür. Der Raum war zu staubig, um das Gesicht des Mannes klar zu erkennen, aber selbst aus der Ferne konnte Leila spüren, dass er eine überwältigend einschüchternde Ausstrahlung besaß. Er trat den gefallenen Bärenkopf, und dieser segelte direkt ins Gesicht des Kommandanten; es war ein harter und präziser Schlag. Der Kommandant wurde bewusstlos geschlagen und fiel sofort zu Boden.

Leila konnte seine Augen auf sich spüren. Sein Blick schien ungewöhnlich lange auf ihren fliederfarbenen Augen zu verweilen. Ohne jegliche Emotion wandte er sich an den Mann in schwarzer Rüstung, der hinter ihm stand. „Entlasse ihn aus der Truppe. Und bring sie in mein Ratszimmer.“

„Jawohl, mein Prinz.“ Der dunkle Ritter gehorchte und trat ein.

Als der Ritter den Raum betrat, hatten die Sonnenstrahlen endlich die Chance, den düsteren Lagerraum zu durchdringen und ihn mit ihrem funkelnden orangefarbenen Licht zu füllen. Mit großem Erstaunen sah Leila den Schatten des Prinzen klar auf dem Boden; anstelle eines Mannes war sein Schatten in der Form eines wilden Drachen.

Leila wurde sanft vom dunklen Ritter hochgezogen. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, in dem Glauben, eine Art Illusion gesehen zu haben. Sie wollte einen weiteren klaren Blick auf den Schatten werfen, aber der Prinz war bereits aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

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