




Kapitel: 5
Die Sonne hatte kaum den Horizont erreicht, als Lyra aus ihren Gemächern schlich, das alte Grimoire fest unter ihrem Arm. Lautlos bewegte sie sich durch die verwinkelten Korridore der Festung des Zirkels, ihre smaragdgrünen Augen huschten nervös von Schatten zu Schatten. Die Last ihrer Entdeckung drückte schwer auf ihre Schultern und trieb sie trotz des Risikos voran.
Als sie um eine Ecke bog, rief eine vertraute Stimme, was sie beinahe dazu brachte, das kostbare Buch fallen zu lassen. "Lyra? Was machst du so früh auf?"
Sie drehte sich um und sah Elara, eine der älteren Hexen des Zirkels. Das silberne Haar der älteren Frau war ordentlich geflochten, und ihre scharfen grauen Augen musterten Lyra mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis.
Lyra zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. "Guten Morgen, Elara. Ich konnte nicht schlafen, also dachte ich, ich fange früh mit einigen Recherchen an."
Elaras Blick fiel auf das Grimoire in Lyras Armen, ihre Stirn runzelte sich. "Dieses Buch... ist das nicht aus dem gesperrten Bereich der Bibliothek?"
Ein Schauer lief Lyra über den Rücken, aber sie bewahrte ihre Fassung. "Ja, das ist es. Hohepriesterin Cordelia hat mir eine Sondergenehmigung gegeben, es für ein Projekt zu studieren, an dem ich arbeite."
Es war nicht ganz gelogen. Cordelia hatte Lyra tatsächlich Zugang zum gesperrten Bereich gewährt, wenn auch nicht aus den Gründen, die sie jetzt vorgab. Lyra hasste es, ihre Mentorin zu täuschen, aber die Schwere der Prophezeiung verlangte Geheimhaltung, zumindest bis sie mehr Informationen sammeln konnte.
Elara nickte langsam, obwohl ein Hauch von Misstrauen in ihren Augen blieb. "Ich verstehe. Nun, ich will dich nicht von deinen Studien abhalten. Denk nur daran, Lyra, Wissen ist Macht, aber manche Geheimnisse sollten besser unberührt bleiben."
Mit diesen kryptischen Worten setzte Elara ihren Weg fort und ließ Lyra einen Atemzug ausstoßen, den sie nicht bemerkt hatte, dass sie ihn angehalten hatte. Sie beschleunigte ihren Schritt, wissend, dass die Zeit drängte.
Als sie den östlichen Turm erreichte, stieg Lyra die gewundene Treppe zu ihrem privaten Arbeitszimmer hinauf. Es war ein kleiner, runder Raum, gefüllt mit Büchern, Kräutern und verschiedenen magischen Utensilien. Ein großes Fenster bot einen Blick auf den dichten Wald, der die Festung umgab, und ließ natürliches Licht in den Raum strömen.
Lyra versiegelte die Tür mit einem Schutzzauber, bevor sie das Grimoire vorsichtig auf ihren Arbeitstisch legte. Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln, bevor sie das alte Buch erneut öffnete.
"Na gut," murmelte sie zu sich selbst, "mal sehen, was du mir noch über diese Prophezeiung erzählen kannst."
Stunden vergingen, während Lyra den Text durchforstete, Notizen machte und mit anderen Büchern aus ihrer Sammlung abglich. Je mehr sie entdeckte, desto gewaltiger schien ihre Aufgabe. Die Artefakte, die benötigt wurden, um die Apokalypse zu verhindern, waren über den ganzen Globus verstreut, einige an Orten, die längst in Legenden übergegangen waren.
Ein leises Klopfen an der Tür riss Lyra aus ihren Forschungen. Schnell bedeckte sie das Grimoire mit einem Tuch, bevor sie den Schutzzauber aufhob und die Tür öffnete. Mara stand im Flur, ihr Gesicht blass vor Sorge.
"Lyra, du musst schnell kommen," sagte Mara mit gedämpfter Stimme. "Der Hohe Rat hat eine Notfallsitzung einberufen. Sie fragen speziell nach dir."
Lyras Herz raste. "Haben sie gesagt, warum?"
Mara schüttelte den Kopf. "Nein, aber Elara war dort, als die Einberufung erfolgte. Sie sah... besorgt aus."
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Lyras Magen aus. Hatte Elaras Verdacht sie dazu gebracht, den Rat zu alarmieren? "In Ordnung," sagte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. "Lass mich hier nur schnell aufräumen, dann komme ich sofort."
Nachdem Mara gegangen war, sammelte Lyra hastig ihre Notizen und versteckte sie zusammen mit dem Grimoire in einem geheimen Fach unter einer losen Diele. Sie nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln, glättete ihre Roben und atmete mehrmals tief durch.
"Du schaffst das," flüsterte sie ihrem Spiegelbild in einem kleinen Spiegel zu. "Bleib ruhig und erinnere dich daran, was auf dem Spiel steht."
Der Weg zu den Ratssaal schien endlos. Lyras Gedanken rasten durch mögliche Szenarien, jedes schlimmer als das vorherige. Als sie sich den massiven Eichentüren näherte, die mit alten Runen der Macht und Weisheit verziert waren, rüstete sie sich für das, was vor ihr lag.
Der Saal verstummte, als Lyra eintrat. Sieben Hexen saßen in einem Halbkreis, ihre Gesichter ernst. In der Mitte saß Hohepriesterin Cordelia, deren alterslose Züge eine Maske der Enttäuschung zeigten, die Lyras Herz zusammenziehen ließ.
"Lyra," sprach Cordelia, ihre Stimme voller Macht. "Weißt du, warum du vor den Rat gerufen wurdest?"
Lyra schluckte schwer und kämpfte darum, ihre Stimme ruhig zu halten. "Nein, Hohepriesterin. Das weiß ich nicht."
Elara lehnte sich vor, ihre grauen Augen durchdringend. "Vielleicht könntest du erklären, warum du heimlich verbotene Texte aus dem gesperrten Bereich unserer Bibliothek zugänglich gemacht hast?"
Ein Murmeln ging durch die versammelten Ratsmitglieder. Lyra spürte, wie ihr ein Schweißtropfen den Rücken hinunterlief, aber sie hielt stand. "Ich hatte Zugang zu diesen Texten für meine Forschung, Hohepriesterin. Ich habe keine Regeln gebrochen."
"Und doch hast du es für nötig gehalten, über die Natur dieser Forschung zu lügen," sagte Cordelia scharf. "Elara informiert uns, dass du behauptet hast, an einem Projekt mit meinem Segen zu arbeiten. Stimmt das?"
Lyras Gedanken rasten. Sie konnte die Lüge fortsetzen, aber das würde sie nur tiefer in Schwierigkeiten bringen. Sie atmete tief durch und entschied sich, das Risiko einzugehen und die Wahrheit zu sagen. "Nein, Hohepriesterin. Ich entschuldige mich für meine Täuschung. Die Wahrheit ist, ich habe etwas von großer Bedeutung entdeckt – eine Prophezeiung, die eine kommende Apokalypse vorhersagt."
Der Saal brach in schockierte Flüstereien aus. Cordelia hob die Hand und brachte den Raum zum Schweigen. "Eine Prophezeiung? Und du hast es vorgezogen, diese Information für dich zu behalten, anstatt sie dem Rat zu bringen?"
"Ich brauchte Zeit, um die Informationen zu überprüfen," erklärte Lyra, ihre Stimme wurde stärker, während sie sprach. "Die Prophezeiung spricht von drei Zeichen, die die kommende Dunkelheit ankündigen werden. Wir haben das erste bereits erlebt – den Blutmond, der letzten Monat aufging. Wenn ich richtig liege, haben wir nur wenig Zeit, um die Katastrophe zu verhindern."
Eine der anderen Ratsmitglieder, eine streng aussehende Hexe namens Thora, spottete. "Prophezeiungen sind oft vage und offen für Interpretationen. Was macht dich so sicher, dass diese echt ist?"
Lyra wandte sich ihr zu, Überzeugung brannte in ihren smaragdgrünen Augen. "Weil das Grimoire, das die Prophezeiung enthält, durch einen Zeitverschlussspruch geschützt war. Es konnte nur gelesen werden, wenn die Zeit reif war – und das ist jetzt. Außerdem..." sie zögerte, unsicher, ob sie ihre Begegnung mit Selene offenbaren sollte.
"Fahr fort," drängte Cordelia, ihr Ausdruck unergründlich.
Lyra atmete tief durch und fuhr fort. "Ich wurde von einem Wesen besucht, das behauptete, der Wächter der Prophezeiung zu sein. Sie bestätigte deren Echtheit und... und sie sagte, dass ich diejenige sein könnte, die auserwählt ist, die kommende Dunkelheit zu verhindern."
Der Saal brach erneut aus, diesmal mit erhobenen Stimmen voller Unglauben und Wut. Cordelias Stimme schnitt durch das Chaos wie ein Messer. "Ruhe!"