




Kapitel 2
Die kühle Morgenluft biss erneut an Thalias Haut, als sie sich aus den warmen Fängen des alten SUVs herauszog und sich gegen die geschlossene Tür drückte, während Marcus und der namenlose Mann ausstiegen und sich vor dem Fahrzeug aufstellten. Marcus' Unmut darüber, hier zu sein, war deutlich spürbar, während der andere Mann viel entspannter wirkte, fast gelangweilt.
Fast eine Minute lang geschah nichts. Niemand stieg aus dem dunklen Sedan gegenüber aus. Die Fenster waren so stark getönt, dass man nichts erkennen konnte, und Thalia spürte, welche Art von Kreatur sich im Inneren des Fahrzeugs verbarg. Wer waren diese Leute? Sie schienen Geld zu haben, also warum mischten sie sich mit Leuten, die ihr Geld damit verdienten, kleine Mädchen zu entführen und sie an irgendwen zu verkaufen? Thalia konnte sich noch lebhaft an ihre eigene Entführung erinnern, doch aus irgendeinem Grund hatte Lars sie nicht wie die anderen verkauft. Er hatte sie wie einen Hund in einem Käfig gehalten, sie nur herausgelassen, um zu putzen und zu kochen oder um als Prügelknabe zu dienen.
Das Öffnen einer der Autotüren riss Thalia aus ihren Gedanken, und sie beobachtete, wie eine große Frau anmutig ausstieg. Durchdringend blaue Augen, die die Farbe der arktischen Meere hatten, setzten sich gegen ihre cremige Haut ab. Ihr nordisch blondes Haar war straff zu einem Knoten zurückgebunden, und ihre postkastenroten Lippen waren zu einer festen Linie verzogen, die ihre offensichtliche Abneigung gegen die Männer vor ihr verriet. Schwarze Stilettos gaben den Blick auf lange, wohlgeformte Beine frei, die unter einem schwarzen Bleistiftrock verschwanden, der knapp über den Knien begann und hoch an der Taille endete. Eine cremefarbene Bluse mit Schleifenkragen versteckte sich unter einer taillierten Hahnentrittjacke, die mit Messingknöpfen und schwarzem Besatz versehen war.
Sie sah aus, als würde sie in Geld schwimmen, und gleichzeitig wirkte sie streng wie eine katholische Schuldirektorin. Ihre Ausstrahlung ließ Thalia sofort zurückweichen wie ein schüchternes Kind, das sich vor diesen harten, prüfenden Augen verstecken wollte.
Die Frau verschwendete keine Zeit und überquerte die Schotterfläche, die scharfen Kieselsteine unter ihren Schuhen verlangsamten ihren nahtlosen Gang kein bisschen.
„Frau Thorton, wie schön, Sie wiederzusehen.“ Marcus sprach, aber seine Worte verrieten seine wahren Gefühle.
„Haben Sie, was er verlangt hat?“ Frau Thortons Ton war scharf und bestimmt, ließ keinen Raum für Zeitverschwendung.
„Ja.“ Der alte Wolf grunzte und warf einen Blick über seine Schulter. „Komm her, Mädchen.“
Thalia dachte zuerst, sie hätte den Mann falsch verstanden. Es gab keinen praktischen Grund, warum sie sich dieser einschüchternden Frau zeigen sollte. Es war schon bizarr genug, dass sie auf diese Reise mitgenommen worden war. Doch als die Stille sich hinzog, wurde Thalia klar, dass sie tatsächlich gerufen wurde, und sie machte zögernde Schritte nach vorne, bis sie neben Marcus stand, den Blick gesenkt und die Hände vor sich gefaltet.
„Sie?“ Die Frau bellte, unbeeindruckt. „Sie sieht aus, als hätte sie seit Jahren kein Badezimmer von innen gesehen. Er wird sie nicht akzeptieren. Wir haben gesagt, wir wollten eine, die bei guter Gesundheit ist. Dieses Mädchen sieht aus, als würde sie jeden Moment tot umfallen.“
„Ja, nun, sie ist das Beste, was wir kurzfristig auftreiben konnten.“ Der Namenlose meldete sich zu Wort, seine Stimme deutlich spöttisch gegenüber Marcus' früheren Worten.
„Halt den Mund, Mason.“ Marcus knurrte.
Thalia spürte, wie ihr Puls schneller wurde. Verwirrung hatte sich schon lange in ihr festgesetzt, aber jetzt strömte Angst wie Eis in ihre Adern, als ihr klar wurde, dass sie über sie sprachen, als wäre sie ein Gegenstand, der gehandelt werden sollte. Lars hatte nie Anstrengungen unternommen, sich von Thalia zu befreien, obwohl sie ihm wirklich keinen Nutzen brachte außer Geld. Warum also jetzt? Warum schob er sie jetzt ab? Und an wen?
„Unser gemeinsamer Freund war sehr klar in seinen Anforderungen.“ Frau Thorton sprach, ohne etwas in ihrem Ausdruck preiszugeben, aber ihre Augen waren scharf und bohrten sich in den alten Wolf. „Sicherlich hätten Männer Ihrer Erfahrung keine Schwierigkeiten gehabt, diese Erwartungen zu erfüllen.“
„Ja, nun, vielleicht sollte Ihr Kunde seine Erwartungen ein wenig herunterschrauben.“ Marcus höhnte.
Die Stille war intensiv, und Thalia konnte die Feindseligkeit zwischen dem Mann und der Frau vor ihr praktisch schmecken. Vielleicht war das ein grausamer Scherz oder vielleicht hatte Lars einen Fehler gemacht.
„Leider ist das Geschäft geplatzt, meine Herren.“ Frau Thorton war die Erste, die sprach. „Wir werden unser Geschäft woanders hin verlagern müssen.“
„Sie ist unberührt.“ Marcus entgegnete.
„Vielleicht, aber das ist nicht der Punkt...“
„Und sie hat Alpha-Blut.“ Marcus platzte heraus.
Diesmal war die Stille, die sich zwischen den Vieren ausbreitete, von Verzweiflung und sogar Überraschung erfüllt. Thalia spürte die Blicke, die sich in sie bohrten, und warf einen subtilen Blick zur Seite, um zu sehen, wie der Mann namens Mason sie neugierig anstarrte, als ob er nun etwas bemerkte, das ihm zuvor entgangen war. Thalia war sich nicht sicher, warum es so überraschend und wichtig war, dass sie aus einer Alpha-Familie stammte. Es konnte ihr in keiner Weise helfen. Es war so lange her, dass sie das letzte Mal hatte schiften dürfen oder wie andere junge Wölfe trainiert worden war. In Kombination mit der Erschöpfung und dem Gewichtsverlust durch die schlechte Ernährung war es ein Wunder, dass Thalia überhaupt die Kraft hatte, ihren Kopf zu heben, geschweige denn sich zu verteidigen.
„Wartet hier.“ Frau Thortons scharfe Stimme warnte, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und zum Auto zurückging.
„Eine Alpha-Tochter?“ Mason richtete seine Frage an Marcus, der sich eine weitere Zigarette angezündet hatte. „Lars hat das geheim gehalten.“
„Er hat sie für den Fall behalten, dass eine Situation wie diese auftaucht.“ Marcus antwortete und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
Frau Thorton war nur wenige Minuten später zurück, doch diesmal war sie nicht allein, da ein riesiger Mann hinter ihr herging, seine ernsten dunklen Augen starrten Marcus und Mason an, und ein schwarzer Anzug spannte sich über seine dicken Muskeln.
Im Hinterkopf spürte Thalia, wie Maeve, ihr Wolf, sich regte. Sie fühlte die Präsenz des Wolfs kaum noch, aber das Gefühl drohender Gefahr ließ Maeve nach vorne drängen, bereit zu kämpfen, wenn es nötig war.
„Heute ist euer Glückstag, meine Herren.“ Frau Thorton sprach. „Rafi, bring das Mädchen zum Auto, während ich die Herren bezahle.“
Angst schoss wie heiße Lava durch Thalias Adern, ihre dunklen Augen weiteten sich vor Entsetzen, als der riesige Mann auf sie zukam. Sie versuchte, sich wegzuducken, aber trotz seiner Größe war der Mann überraschend flink und packte leicht ihren Arm. Ein erschrockener Schrei entfuhr Thalias Lippen, als muskulöse Arme sie umschlangen und ihre Arme an ihre Taille drückten, während sie zum wartenden Sedan geschleppt wurde. Ihr Strampeln war vergeblich, wie ein Kätzchen, das gegen einen Löwen kämpft, und sie fand sich praktisch in den Rücksitz des Autos geworfen, ihr Gesicht traf auf das kühle schwarze Leder, als die Tür zugeschlagen wurde. Thalias natürlicher Instinkt war, zu versuchen, die Tür zu öffnen, was sie auch tat, nur um festzustellen, dass sie verschlossen war.
„Lass mich raus!“ schrie sie und hämmerte gegen das Fenster, ihr Körper zitterte.
Ihr war bewusst, dass das Verbleiben bei den Schurken kaum ideal war, aber zumindest kannte sie dort ihren Platz. Das unheilvolle Gefühl von Terror, das sie in dieser Situation verspürte, war um ein Vielfaches schlimmer, und sie konnte nicht anders, als zu glauben, dass der Ort, an den sie jetzt gebracht wurde, nur eine weitere Ebene von Angst und Härte bedeutete.
Das Öffnen der Autotür auf der gegenüberliegenden Seite ließ Thalia zusammenzucken, und sie drehte sich schnell um, um mit tränenüberströmten Wangen zuzusehen, wie die blonde Frau elegant einstieg, als wäre sie sich völlig nicht bewusst, dass sie gerade jemanden entführte.
„Du musst mich gehen lassen.“ flehte Thalia.
„Ich muss gar nichts.“ antwortete Frau Thorton mit hartem Ton. „Außer dich zu meinem Arbeitgeber zu bringen. Du kannst jetzt brav sitzen bleiben oder wir machen es auf die harte Tour, aber so oder so kommst du mit mir.“
„Das kannst du nicht tun!“ schrie Thalia und stürzte sich auf die ältere Frau, nur um von einer Hand an ihrem Hals gestoppt zu werden, manikürte Nägel gruben sich in ihre Haut.
„Dann eben auf die harte Tour.“ seufzte Frau Thorton und griff mit ihrer freien Hand in die Brusttasche ihrer Jacke.
Thalia wollte schreien, aber sie konnte weder Luft ein- noch ausatmen. Der scharfe Stich in ihrem Oberschenkel ließ sie nach unten schauen, und sie beobachtete entsetzt, wie Frau Thorton den Kolben der Spritze mit klinischer Präzision herunterdrückte. Mit der leeren Spritze ließ Thorton ihren Griff um Thalias Hals los, legte die benutzte Nadel in einen kleinen Plastikbeutel mit der Aufschrift „medizinischer Abfall“ und verstaute ihn in den Tiefen ihrer Tasche. Thalia beobachtete die gesamte Szene mit einem Herz, das wie ein Presslufthammer schlug, und weit aufgerissenen Augen.
„Was hast du mir gerade injiziert?“ Thalias Stimme zitterte.
„Ein Beruhigungsmittel.“ antwortete Frau Thorton, ihre eisigen Augen scannten nun ihr Telefon, als wäre es nur ein weiterer Tag im Büro. „Es sollte jetzt gleich wirken.“
Wie auf Kommando fühlte Thalia, wie ihre Glieder schwer wurden und ihr Blick verschwamm. Ihr rasendes Herz hatte das Beruhigungsmittel zweifellos schnell durch ihren Körper gepumpt, und nun begann sie, die Wirkung des Medikaments zu spüren, das sie in die tiefe Dunkelheit zog. Wimmernd versuchte sie, sich zu bewegen, in einem vergeblichen Versuch, die Autotür noch einmal zu öffnen, aber ihre Finger konnten den Griff nicht fassen, geschweige denn die Kraft aufbringen, ihn zu ziehen.
Gerade als der Motor des Autos ansprang, sackte Thalia in ihren Sitz, ihre letzte Erinnerung war, wie Frau Thorton sich über sie beugte, um den Sicherheitsgurt über Thalias Körper zu ziehen, bevor die Dunkelheit sie verschlang.