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Kapitel 1

Dann fragte Jesus ihn: 'Wie heißt du?' 'Mein Name ist Legion,' antwortete er, 'denn wir sind viele.'

- Markus 5:9

Gegenwart*

Thalia konnte nicht sagen, welche Tageszeit es war, aber es fühlte sich an, als hätte sie kaum die Augen geschlossen, um ein paar kostbare Stunden Schlaf zu erhaschen, bevor sie durch das Geräusch von Schlüsseln, die das alte Schloss ihrer Zellentür aufbrachen, unsanft geweckt wurde. Die riesige Metalltür ächzte protestierend in ihren Angeln, als sie geöffnet wurde. Diese Geräusche waren in den wenigen Jahren, die sie in dieser ewigen Hölle festgehalten wurde, zu ihrem Wecker geworden, und doch fürchtete sie den Moment jedes Mal aufs Neue.

Ihre Augen waren lange geöffnet, bevor das Geräusch schwerer Stiefel, die über den nassen und schimmeligen Boden stampften, ihre Ohren erreichte. Sie war lange genug hier, um zu wissen, wer kam, um sie aus diesem dunklen Loch zu zerren, in dem sie festgehalten wurde. Rosty (nicht sein richtiger Name, aber sie nannte ihn so, weil seine Haare die gleiche hässliche orange Farbe hatten) hinkte, Gelb (gelbe Zähne vom Kettenrauchen) schlurfte mit den Fersen über den Boden, aber heute hatte sie das Missvergnügen, von Hammer (weil seine Schläge sich anfühlten, als würde man mit einem Hammer getroffen) eskortiert zu werden.

"Aufstehen." Hammers raue Stimme knurrte, als ein schmerzhafter, schraubstockartiger Griff Thalias Oberarm packte und sie wie eine Puppe vom Bett zog. "Der Boss will dich sehen."

Thalia machte sich nicht die Mühe zu antworten und versuchte, mit dem großen Mann Schritt zu halten, während ihre kalten, nackten Füße auf den feuchten Steinboden klatschten. Zu ihrem Leidwesen war es draußen immer noch dunkel, was darauf hindeutete, dass sie nicht allzu lange in den Zellen gewesen war. Eine Welle der Angst baute sich schnell in ihr auf, während ihr Geist fieberhaft versuchte, sich zu erinnern, ob es etwas gab, das sie vergessen hatte zu tun. Sie hatte das Abendessen gekocht und die Küche aufgeräumt. Sie hatte den Müll rausgebracht. Sie hatte sogar den Abend damit verbracht, dieser Bande widerlicher Kreaturen Getränke zu servieren und versucht, nicht zu reagieren, wenn sie sie begrapschten oder ihr auf den Hintern schlugen. Sie hatte gelernt, dass sie sich an ihren Tränen und ihrer Demütigung ergötzten.

Nein, sie war sich sicher, dass sie alles getan hatte, was ihr aufgetragen worden war, also wusste sie nicht, warum sie aus dem Trost des Schlafes gerissen wurde, um wieder nach oben gebracht zu werden.

Die Lichter im alten Speisesaal, der nicht nur als Essbereich, sondern auch als Partyraum dieser Schurken diente, waren noch an. Einst war es wahrscheinlich ein wirklich schöner Raum gewesen, aber jetzt waren die dünnen Holzverkleidungen und der Teppich aus den Siebzigern nur noch schäbig und traurig. Der Teppich fühlte sich unter Thalias zarten Füßen abgestanden und rau an, obwohl sie ihn im Laufe des Jahres dutzende Male gereinigt hatte. Der Raum stank ständig nach abgestandenem Alkohol, Erbrochenem und Zigarettenrauch, und nur die Hälfte der Lichter funktionierte. Wenn sie nicht ständig tranken, spielten die Männer oder kämpften, und all das geschah hier.

"Hab das Mädchen für dich, Boss." grunzte Hammer, als sie sich einem Tisch näherten.

Er gab Thalia einen groben Stoß, der sie ein paar Schritte nach vorne stolpern ließ, bis der Tisch direkt vor ihr war und die harten Augen der Anwesenden sie musterten.

Rogues waren kein Rudel und hatten auch keine Rudelstruktur, zumindest nicht so, wie Thalia es gewohnt war. Dennoch hatten sie eine seltsame Hierarchie, ähnlich einer Gang mit einem Boss, einem rechten Handlanger und dann den Handlangern, die die Drecksarbeit erledigten. Es war irgendwie ironisch, dass diese Männer, die aus ihren Rudeln geworfen worden waren, weil sie sich nicht an die Rudelstruktur halten konnten, eine organisierte Hierarchie ähnlich einem Rudel etabliert hatten.

"Thalia, danke, dass du zu uns gekommen bist." Lars, der Anführer, sprach mit einer rauen Stimme, die von Jahren des Rauchens und Trinkens herrührte.

"Guten Abend, Sir." Thalia brachte es in einer demütigen Stimme hervor, ihre espresso-braunen Augen huschten zwischen Lars und dem Mann hin und her, den er als seinen Stellvertreter betrachtete.

"Ich brauche dich, um mit Marcus hier einen Auftrag zu erledigen." Lars befahl, nicht fragte.

"Einen Auftrag?" fragte Thalia, bevor sie sich zurückhalten konnte.

"Ja. Marcus muss eine Lieferung machen und du sollst mit ihm gehen." Der Anführer lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne, um ein Päckchen Zigaretten vom Tisch zu nehmen. "Ihr geht in zehn Minuten, also schlage ich vor, dass du dich präsentabel machst."

Thalia war sich nicht sicher, was damit gemeint war. Sie hatte kaum Kleidung und besaß weder Make-up noch Haarprodukte, außer ein paar Gummibändern und einer alten Haarbürste, um ihr dickes dunkles Haar aus dem Gesicht zu halten. Sie besaß keine Schuhe, weil sie nie nach draußen durfte, und persönliche Gegenstände hatte sie schon gar nicht. Sie würde das jedoch nicht sagen. Widerworte würden mehr als eine Standpauke einbringen, und ihre Rippen schmerzten immer noch von dem letzten Mal, als sie anscheinend etwas falsch gemacht hatte und bestraft werden musste.

Ohne ein Wort huschte Thalia ins Badezimmer, um sich für ein paar Minuten zu verstecken. Sie wollte nicht zurück in ihren Käfig, aber sie wollte auch nicht bei dieser Truppe herumsitzen. Glasscherben zu schlucken klang verlockender.

Das Badezimmer war wie der Rest des Elends, das die Rogues als ihre Basis nutzten; ein Dreckloch. Thalia konnte nicht zählen, wie oft sie dieses Badezimmer und die anderen geputzt hatte, nur um festzustellen, dass es nicht besser aussah als vorher. Diese Männer waren ehrlich gesagt Tiere, und das nicht nur, weil sie Werwölfe waren.

Seufzend schleppte sich Thalia zum Waschbecken und blickte in einen rissigen Spiegel, der traurig an der senfgelben Wand hing. Sie wusste nicht, was sie zu sehen erwartete, aber das Spiegelbild, das ihr entgegenblickte, raubte ihr den Atem. Schwarze Ringe hingen unter ihren espresso-braunen Augen, die matt und blutunterlaufen vor Erschöpfung waren. Ihre Lippen waren so blass wie ihre Haut. Sie erinnerte sich daran, wie ihre olivfarbene Haut einst unter der mediterranen Sonne nussbraun geglüht hatte. Jetzt ließ ihre Blässe sie unter der Schmutzschicht krank aussehen.

Sie wollte weinen, aber es hatte keinen Sinn. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Weinen nicht half. Stattdessen drehte sie den Wasserhahn auf, schöpfte das eiskalte Wasser in ihre Hände und spritzte es sich ins Gesicht, um den Schmutz abzuwaschen, der an ihr klebte. Sie trocknete ihr Gesicht mit den abgewetzten Ärmeln ihres Pullovers und zwang sich aus dem Badezimmer, bevor Lars jemanden schickte, um sie zu holen. Die Männer hatten den Saal nicht verlassen, aber Marcus stand jetzt auf, sein fettiges kinnlanges Haar umrahmte seine dünnen, scharfen Gesichtszüge. Seine wasserblauen Augen verengten sich, als er an einer Zigarette zog und zusah, wie die kurvige kleine Frau hereinhuschte.

"Lass uns gehen." Marcus sprach schließlich, kaum Thalia beachtend, und drehte sich auf dem Absatz um, um hinauszugehen. "Jetzt, Frau!"

Thalia zögerte nicht und folgte dem Mann mit gesenktem Kopf hinaus in die Nacht. Die Luft war beißend kalt und traf ihre untergewichtige Gestalt wie ein Güterzug. Sie sog zitternd Luft ein und hätte fast gehustet, als die eisige frische Luft ihre Lungen füllte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, seit Thalia das letzte Mal draußen gewesen war. Sie hatte die Welt von ihrem Gefängnis aus vorbeiziehen sehen, die Jahreszeiten kamen und gingen, und doch hatte Thalia seit langem nicht mehr den Frühlingsregen auf ihrer Haut gespürt oder die rohe Hitze der Sommersonne. Es fühlte sich fast falsch an, jetzt draußen zu sein, als wäre sie an einem Ort, an dem sie nicht sein sollte.

Sie beschleunigte ihre Schritte, um mit Marcus Schritt zu halten, als er sich einem alten SUV näherte. Ein anderer Mann lehnte gegen den alten Rostkübel und wartete auf sie. Thalia hatte ihn schon ein paar Mal gesehen, aber nur selten. Dieser Unbekannte beunruhigte Thalia, aber sie konnte nichts sagen. Sie hatte hier keine Kontrolle. Sie sollte Befehle befolgen und still sein.

"Also, ist das sie?" Der Mann, den Thalia kaum kannte, sprach, seine schwarzen Augen starrten direkt in ihre und schienen sie bis auf die Seele zu durchdringen.

"Ja." knurrte Marcus.

Der Mann grinste und betrachtete Thalia weiterhin, als wäre sie ein gehorsamer Welpe, der verzweifelt nach der Zuneigung seines Meisters lechzte.

"Ich bin mir nicht sicher, ob sie die Anforderungen erfüllt, Marcus."

"Nun, sie ist das Beste, was wir kurzfristig auftreiben konnten, also halt die Klappe und steig ein!" bellte Marcus, der die ganze Situation schon satt hatte.

Die Kommentare ließen Thalia verwirrt zurück, während der zerstörerische Blick dieses fremden Mannes sie nervös machte. So sehr sie Marcus auch verabscheute, sie hoffte, dass er sie nicht mit dem anderen Mann allein ließ. Der Gedanke erfüllte sie einfach mit kaltem Grauen.

Eine unangenehme Stille erfüllte den SUV, als sie das Gelände verließen und in die Nacht hinausfuhren. Das dunkelhaarige Mädchen konnte endlich ihre Umgebung sehen, trotz der Dunkelheit. Sie waren irgendwo abgelegen, mit schmalen Straßen und Feldern und Bäumen in alle Richtungen. Das Terrain war sicherlich anders als das, was Thalia gewohnt war, und sie fragte sich, wie weit sie von zu Hause entfernt war. Sie hatte immer gewusst, dass sie nicht mehr in Griechenland war, aber sie hatte gehofft, dass sie sich noch im Süden des Kontinents befand. Das schien jedoch nicht der Fall zu sein.

Eine Stunde verging und dann zwei, und während Thalia versuchte, wach zu bleiben, tat die Erschöpfung alles, um sie in die tröstenden Tiefen des Schlafes zu ziehen. Ihre Augen fielen langsam zu, nur um sie plötzlich wieder aufzureißen. Jedes Mal dauerte es ein wenig länger, bis sie merkte, dass sie einschlief.

Thalia dankte der Göttin, als das Auto endlich in einer alten Raststätte zum Stehen kam. Inzwischen begann die Morgendämmerung zu brechen, und die einst schwarze Nacht wurde zu einem unheimlichen Blau, was es leichter machte, zu sehen, wo sie waren. Die kleine griechische Wölfin dachte, dass sie vielleicht eine Pause machten, und keiner der Männer vorne machte Anstalten, auszusteigen. Marcus stellte einfach den Motor ab, was den Raum mit Stille füllte.

"Wo ist er?" knurrte Marcus, griff nach einer Zigarette und zündete sie an.

"Er wird hier sein." antwortete der namenlose Mann ruhig und öffnete ein Fenster, um den Rauchgeruch entweichen zu lassen.

"Ich warte hier nicht den ganzen Tag." brummte der ältere Mann und verengte seine Augen auf nichts Bestimmtes.

"Du hast irgendwie keine Wahl." seufzte No-Name, klang genervt von dem älteren Mann und seiner Launenhaftigkeit. "Es ist das oder er bringt uns alle um."

Thalia schnappte alarmiert nach Luft bei dieser erschreckenden Aussage. In was war sie da nur hineingeraten!?

Sie hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, als blasses Vanillelicht durch die Zwischenräume der Bäume vor ihnen schimmerte. Wenige Augenblicke später rollte ein schwarzer Sedan ins Blickfeld, das Licht seiner Scheinwerfer blendete Thalia kurzzeitig, bevor das Auto abbog und zwanzig Meter von ihnen entfernt zum Stehen kam.

"Endlich." grunzte Marcus und entriegelte die Türen. "Alle raus. Lasst uns das hinter uns bringen."

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