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Kapitel 1 — Du hast sie alle getötet

EMMA

Die Werwölfe kamen in der Nacht des Blutmondes. Der Himmel färbte sich rot, als sie durch die Stadt zogen und Mädchen und Frauen aus ihren Häusern rissen. Das Chaos brach aus, als das erste Mädchen getötet wurde. Ihr Name war Hannah und sie war meine beste Freundin.

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Ich schaue aus meinem Schlafzimmerfenster und bemerke den roten Schimmer am Himmel. Er wirkt bedrohlich im Vergleich zu einem Sonnenuntergang. Ich sehe Hannah, wie sie auf unser Haus am Ende der Straße zugeht. Ihre Augen sind himmelblau und ihr haselnussbraunes Haar reicht ihr bis zum unteren Rücken. Ich war immer ein bisschen neidisch auf Hannah wegen ihres glatten und pflegeleichten Haares.

„Mama, kann ich kurz rausgehen? Hannah ist hier“, rufe ich meiner Mutter nach unten.

Die melodische Stimme meiner Mutter hallt durch das Treppenhaus. „Aber nur für eine Weile, okay, Liebling? Ich brauche deine Hilfe mit diesem Kuchen.“

„Ja, ich verspreche es.“

„Gibt es Kuchen?“ ruft Lucas aus seinem Zimmer und steckt seinen Kopf zur Tür heraus. Sein blondes Haar ist wie immer zerzaust.

„Natürlich gibt es Kuchen, Dummkopf. Es ist mein Geburtstag“, singe ich und ignoriere meinen nervigen Bruder, der eine Bemerkung zurückwirft.

Ich renne die Treppe hinunter und zur Haustür. Wir leben in einem weiß gestrichenen Haus in der kleinsten Straße von Aldea. Normalerweise ist es hier sehr lebhaft mit vielen grünen Pflanzen in den Vorgärten und Menschen, die miteinander reden, aber heute liegt eine kalte Kühle in der Luft.

Ich beobachte, wie ein Mann in einer schwarzen Uniform und schwarzen Lederstiefeln in unsere kleine Straße kommt. Ich kenne jeden, der hier wohnt, aber dieser Mann ist mir unbekannt.

Er geht auf Hannah zu und ich sehe, wie Krallen aus seiner Hand wachsen und ihr Herz durchbohren. Ich sehe, wie das Blut ihr Kleid durchtränkt und das Leben aus ihren himmelblauen Augen verschwindet.

Ich schreie und meine Mutter erscheint neben mir an der Tür. Der Mann schaut in unsere Richtung mit einem bösartigen Glitzern in den Augen. Weitere Männer erscheinen und betreten unsere kleine Straße und umringen den Mann.

Meine Mutter zieht mich von der Tür weg und drängt mich, durch die Hintertür in den dunklen Wald hinter unserem Haus zu rennen. Sie hält nicht an, um nach meinem Bruder oder Vater zu suchen. Sie zieht mich einfach weg vom Chaos.

Als wüsste sie, warum sie hier sind und was sie wollen.

Die Häuser der Stadt verschwinden hinter uns und werden durch ein endloses Meer von Kiefern ersetzt. Die hohen Kiefern werfen Schatten auf die Erde. Der Boden bebt unter meinen Füßen, als die Monster näher kommen. Meine Mutter zieht an meinem Arm, ihre Finger graben sich fest in meine Haut, während sie mich drängt, schneller durch den Wald zu rennen.

Die Erinnerung an das Blut, das auf den Bürgersteig tropfte, wo der Werwolf durch das Fleisch riss, erfüllt meinen Geist.

Ich kann nicht schneller rennen, meine Brust hebt und senkt sich schwer und meine Muskeln brennen. Meine Beine sind schwach und flehen mich an, langsamer zu werden. Wir rennen, bis die Holzhütte in Sicht kommt. Die Jägerhütte ist alt und verlassen. Es gibt Löcher im Dach und die Fenster sind zerbrochen.

Meine Freunde und ich schlichen uns hier manchmal ein und erzählten uns nachts Gruselgeschichten, aber keine Geschichte war je so gruselig wie diese.

Meine Brust hebt und senkt sich schwer, als wir aufhören zu rennen. Ich kann den Wald in der feuchten Luft schmecken. Wir treten über Kiefernzapfen und zerbrochene Äste zur Veranda.

Die Holztür knarrt protestierend, als meine Mutter uns hineinbringt. Der Boden ist mit toten Blättern bedeckt, die durch das Fenster hereingeweht wurden.

Meine Beine geben endlich nach und meine Mutter zieht mich in eine enge Umarmung. Das einzige Geräusch um uns herum ist unser schwerer Atem. Sie zieht mich zurück und schaut mir direkt in die Augen. Mein Blick ist verschwommen, aber ich kann immer noch sehen, dass ihre himmelblauen Augen hart und kalt sind, etwas, das ich noch nie zuvor gesehen habe.

„Wir haben nur wenig Zeit, also hör gut zu.“

Meine Hände zittern, als das Adrenalin nachlässt. „Mama, ich habe Angst.“ Die Hütte ist kalt ohne Sonnenlicht und hinterlässt Gänsehaut auf meiner Haut.

Sie reibt ihre Hände auf und ab über meine nackten Arme. „Ich weiß, Liebling, aber du musst mir zuhören, okay?“

Ich nicke und umklammere die Halskette, die mir meine Mutter zu meinem zehnten Geburtstag, genau vor vier Jahren, geschenkt hat. Ich berühre sie, wenn ich nervös oder ängstlich bin. Der Anhänger ist aus mundgeblasenem Glas und in Form eines zunehmenden Mondes. Er ist durchsichtig und hängt an einer silbernen Kette.

Meine Mutter legt ihre Hand über meine. „Du musst sehr vorsichtig damit sein, okay?“

Ich nicke erneut.

„Jetzt bleib ganz still“, sagt meine Mutter und ihre Augen werden schwarz.

Instinktiv ziehe ich mich von ihr zurück, aber ihr Griff ist unerbittlich. Ihre Lippen bewegen sich, während sie eine Reihe von Worten in einer Sprache murmelt, die ich nicht verstehe.

„Mama, was passiert?“ Ein scharfer Schmerz durchzuckt meine Brust. Ein Schrei will meine Lippen verlassen, aber meine Mutter hält ihre Hand fest über meinen Mund.

Der Schmerz durchbohrt mein Herz und breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Er erreicht den Scheitel meines Kopfes und die Spitzen meiner Finger. Ich schließe die Augen fest und flehe innerlich, dass sie aufhört.

Nach einer Minute, die sich wie Stunden anfühlt, verlässt der Schmerz schließlich meinen Körper durch die Brust. Als ich die Augen öffne, sehe ich einen traurigen Ausdruck in ihren blauen Augen.

Das Zittern unter uns kehrt zurück und ich sehe, wie die Angst die Entschlossenheit in den Augen meiner Mutter ersetzt.

Ihre Worte sind kaum ein Flüstern. „Sie sind nah. Du musst dich verstecken.“

Sie schaut sich einen Moment im Raum um. Dann fällt ihr Blick auf die Küchenschränke. Die einst roten Schranktüren hängen kaum noch an ihren Scharnieren.

Sie führt mich in den dunklen Raum. „Hör gut zu, egal was passiert. Versprich mir, dass du dich nicht bewegst und keinen Laut von dir gibst.“

Ich möchte fragen, was los ist. Ich möchte fragen, wo Lucas und Papa sind, aber der eisige Blick in ihren Augen hält mich davon ab. „Ich verspreche es“, flüstere ich.

Sie schließt die Türen fest, zwingt das Holz an seinen Platz. Ich hocke mich in den dunklen, engen Raum, aber ich kann immer noch alles durch den Spalt zwischen den Türen sehen.

Die Tür schwingt auf und knallt gegen die Wand. Der mittelalte Mann in schwarzen Lederstiefeln und einer schwarzen Uniform betritt die Hütte. Auf seiner Uniform sind drei goldene Sterne gestickt. Sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten. Die Linien in seinem Gesicht sind tief und seine Augen sind schlammig braun. Er geht durch den Raum und schaut sich um, als würde er die Wahl der Einrichtung beurteilen.

„Was wollen Sie?“ fragt meine Mutter mit dem Rücken zu mir.

„Du weißt, was wir wollen.“ Seine Stimme ist kratzig und schmerzhaft für meine Ohren.

Seine Schritte sind schwer, als er näher zu meiner Mutter kommt und über ihr aufragt. „Wo ist sie? Ich weiß, dass du eine versteckst.“

Meine Mutter ist nicht so groß, aber sie weicht nicht zurück. „Es ist niemand mehr da, du hast sie alle getötet.“

Der Mann lacht und seine Augen werden schwarz. Ein bösartiges Lächeln enthüllt die Reißzähne in seinem Mund und ich unterdrücke ein Keuchen.

„Nicht alle.“

Die Worte hallen noch im Raum wider und ich kann kaum seinen nächsten Zug sehen. Aus seinen Händen wachsen lange, scharfe Krallen. Alles scheint in Zeitlupe zu geschehen. In weniger als einem Atemzug durchbohren die Krallen die Brust meiner Mutter. Sie fällt zu Boden und ihr Blut sickert in den Holzboden.

Meine Hände zittern, als ich meinen Mund bedecke, um einen Schrei zu unterdrücken. Tränen verschleiern meine Sicht und laufen meine Wangen hinunter. Meine Brust schmerzt, als ob ich innerlich zerrissen werde.

Nach einer kurzen Minute der Stille hallt das Geräusch schwerer Stiefel wieder durch die Hütte. Er macht langsame Schritte über zerbrochenes Glas und knarrendes Holz.

„Deine Mutter ist eine gerissene Frau, aber ich hätte sie für klüger gehalten.“ Die Schritte kommen näher und ich sehe das Glänzen seiner schwarzen Lederstiefel.

„Ich konnte dich schon von draußen riechen.“ Er reißt die Schranktüren aus ihren Angeln. Eine große Hand packt mich am Hals und hebt mich in die Luft. Scharfe Reißzähne erscheinen, als er seine furchterregenden Zähne zeigt.

Ich breche das Versprechen, das ich gerade gegeben habe, und stoße einen markerschütternden Schrei aus.

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