




Kapitel 2 Nenn ihn nicht so
Ava ging zurück in ihr Zimmer und winkte ihre Zofe, Emma Carter, herbei. "Emma, löse mein Haar und hilf mir beim Umziehen," sagte sie müde.
Sie ließ sich in den Birnbaumstuhl fallen, die Hände im Schoß, und dachte an einfachere Zeiten. Sie hatte sechs Brüder, alle von ihrer Mutter großgezogen. Ihr Vater, ein hingebungsvoller Mann, hatte nie eine Konkubine genommen und liebte nur seine Frau.
Sie war die Tochter eines Generals. Schon in jungen Jahren wurde sie von den besten Meistern ausgebildet. Mit sieben Jahren verließ sie ihr Zuhause, um in den Bergen zu trainieren. Ihr Talent war offensichtlich, und ihr feuriger Geist trieb sie dazu, jeden Gegner zu besiegen. Innerhalb eines Monats war sie ungeschlagen, eine junge Königin des Schlachtfelds. Sie kannte die Einsamkeit, keinen ebenbürtigen Gegner zu haben. Wenn nicht das passiert wäre, als sie fünfzehn war...
"Ava..." Emmas leises Schluchzen durchbrach ihre Gedanken.
"Herr James ist zu weit gegangen! Du bist die Tochter eines Generals. Wie kann er eine andere Frau als deine Gleichgestellte ins Haus holen? Er missachtet dich und das Erbe deiner Familie! Was werden die Leute in der Hauptstadt sagen?" weinte Emma und wischte sich wütend die Tränen ab.
Ava stupste Emma leicht an die Stirn. "Dumme Emma, Ethan und ich... zwischen uns war nie etwas Intimes."
"Trotzdem, Ava, du hast recht! Er hat eine Grenze überschritten. Das muss schnell geklärt werden. Hol mir meine Mitgiftliste," befahl Ava, ihre Stimme fest trotz ihres inneren Aufruhrs.
Emma sah verwirrt aus, gehorchte aber. "Was hast du vor, Ava?"
Ava warf ihr einen genervten Blick zu und nahm die Liste. "Die Dinge richtigstellen. Denkst du, wir können hier bleiben und diese Lüge leben, nachdem er das getan hat?"
Als Ava ihre Hand hob, schützte Emma instinktiv ihre Stirn und stammelte. "Aber Ava, deine Ehe wurde mit dem Segen der Ältesten arrangiert. Und die Familie James würde es nicht zulassen, dass ihr Erbe eine Konkubine nimmt. Das wäre ein Skandal!"
"Emma, die Leute sagen, der Nordmarquis habe seinen Glanz verloren. Sie denken, wir sind nur noch ein Schatten unserer Vergangenheit. Eine Konkubine zu nehmen mag unehrenhaft sein, aber Sophia hat militärische Erfolge und die Gunst der Kaiserinwitwe. Ihre Unterstützung stärkt Ethans Position und bringt Stabilität in die Familie James. Sie werden ein paar Gerüchte gerne in Kauf nehmen für solche Vorteile. Sie werden ihn nicht aufhalten; sie werden es feiern."
Avas Blick fiel auf die Liste, die elegante Handschrift ihrer Mutter eine schmerzhafte Erinnerung. Schon der Gedanke an ihre Mutter fühlte sich wie eine Wunde in ihrer Brust an.
'Wenn nicht diese Ehe gewesen wäre, wäre meine Familie nicht abgeschlachtet worden,' dachte sie, ein kaltes Funkeln in ihren Augen.
Vor sechs Monaten griffen schwarz gekleidete Attentäter das Anwesen des Nordmarquis an. Sie waren nicht hinter Reichtümern oder Geheimnissen her. Sie waren Agenten der Westhauptstadt, ihr einziges Ziel war es, Schmerz zuzufügen, ihre Identitäten in ihrer Wut offenbart.
Das Kind ihres Bruders, gerade zweieinhalb Jahre alt, wurde brutal ermordet, sein kleiner Körper wies 108 Wunden auf. Die Szene, zu der Ava zurückkehrte, war ein Bild des unvorstellbaren Gemetzels, die Körper unkenntlich.
Ihre Mutter, die bereits Söhne an der Südfront begraben hatte, weinte, bis ihre Sicht verschwamm. Sie verbot Ava, jemals wieder auf das Schlachtfeld zu gehen, und wollte, dass ihre Tochter als Adlige in der Hauptstadt lebte – einen guten Ehemann fand, eine Familie gründete und Frieden kannte.
Unter ihren vielen Verehrern war nur Ethan, der auf Konkubinen verzichtet hatte. Ihre Mutter, die sich an dieses Versprechen klammerte, hatte der Ehe zugestimmt.
Ein falscher Schritt hatte zu einem Leben voller Kummer geführt. Hätte sie nicht geheiratet, wäre ihre Familie noch am Leben, ihre Erinnerung eine Quelle des Trostes statt des brennenden Schmerzes?