




1.
"Komm. Hier rein. Hier wird es wärmer sein."
Die beiden zogen ihre dünnen, abgetragenen Jacken enger um sich, als sie in die Gasse hinter einem Restaurant rannten, um dem überraschenden Regen zu entkommen. Sie duckten sich in eine große, alte Pappschachtel zwischen zwei Müllcontainern. Es roch nach altem Müll, aber sie waren den Geruch gewohnt.
"Das Obdachlosenheim ist zwei Blocks entfernt. Wir hätten es schaffen können," sagte das dunkelhaarige Mädchen, bevor sie in einen Hustenanfall ausbrach.
"Ich weiß, Rosa, aber du bist nicht gesund. Wir müssen trocken bleiben. Ich kann es mir nicht leisten, dass es dir noch schlechter geht," sagte ihre Freundin und half ihr, sich zu wärmen.
"Na gut. Haben wir noch Wasser?" fragte Rosa.
Eva schaute in ihren Rucksack und holte heraus, was ihre Freundin brauchte. "Hier, und nimm diese. Der Arzt sagt, du musst sie mindestens zweimal am Tag nehmen, da wir uns den Inhalator nicht leisten können," sagte sie und reichte ihrer Freundin eine Wasserflasche und zwei Tabletten.
Rosa nickte dankbar und nahm die Medikamente, die sie brauchte, um wach zu bleiben.
Eva und Rosaline waren seit ihrem achtzehnten Lebensjahr befreundet. Rosa hatte Eva geschlagen und schwach in einer Gasse gefunden, kurz bevor sie von zwei völlig betrunkenen Männern angegriffen werden sollte. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, um sie beide zu verteidigen, aber es reichte, damit die Männer das Interesse verloren und weiterzogen. Seit jener Nacht passten sie aufeinander auf wie Schwestern.
Eva hielt ihre Freundin enger, als sie zu zittern begann. "Wie kommt es, dass du immer so warm bist? Egal bei welchem Wetter," fragte Rosaline.
Eva zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Lass uns einfach auf dich konzentrieren," sagte sie und wechselte das Thema.
Rosaline musste nicht wissen, was sie wirklich war, es würde ihre einzige Freundin - die einzige Person, die sie als Familie bezeichnen konnte - verschrecken. Beide waren seit fünf Jahren obdachlos und nahmen Gelegenheitsjobs an, um ein paar Euro zu verdienen und zu überleben.
Eva wusste, warum niemand sie wirklich einstellen wollte, und bei Rosa war es so, dass sie zwar eingestellt wurde, aber ihr Asthma war sehr schlimm. Die Jobs, die sie bekommen konnte, erforderten viel anstrengende Arbeit, die sie nicht leisten konnte.
Rosaline war seit ihrem zwölften Lebensjahr auf sich allein gestellt, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gezogen, bis sie mit achtzehn rausgeworfen wurde. "Niemand will einen Ausgestoßenen," hatte Rosa ihr erzählt, als sie ihre Lebensgeschichten austauschten.
Das Zuschlagen einer Tür durchbrach ihre Stille und ließ sie laut aufschreien.
"Wer ist da draußen?" rief ein Mann.
Rosa und Eva drückten sich enger zusammen und blieben so leise wie möglich. Die meisten Menschen waren nicht freundlich zu Obdachlosen in Berlin, sie waren wie Dreck unter ihren Schuhen.
"Ich habe gefragt, wer da ist?" rief der Mann und kam näher zu dem Versteck der Mädchen.
Rosas Herz begann schneller zu schlagen. Ihr Atem wurde flach. Eva flehte sie mit den Augen an, still zu bleiben. Rosa versuchte, ihren Atem zu beruhigen, aber keine ihrer Techniken funktionierte.
Der Mann schlug den Müllcontainer zu, nachdem er den Müll entsorgt hatte. Eva schnupperte unauffällig in der Luft, als er in der Nähe war. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, nachdem sie den Geruch erkannt hatte. Sie versuchte, ruhig zu bleiben.
Der Mann kam näher. Ein Knurren entwich seinen Lippen, als er den Geruch der beiden wahrnahm. "Hey. Du wirst in der Küche gebraucht. Wir haben VIPs im Speisesaal," rief eine andere Person von der Tür.
"Beim nächsten Mal. Haustiere," zischte er und ging zurück in die Küche.
"Wir müssen jetzt weg," sagte Eva ungeduldig und half ihrer Freundin heraus. Rosa gehorchte schnell und rannte ihrer Freundin durch den Regen hinterher.
"Eva. Langsamer. Bitte," rief sie über den immer stärker werdenden Regen. Sie waren nur eine Straße vom Obdachlosenheim entfernt, also beschlossen sie, den Rest des Weges zu gehen.
"Warum sind wir überhaupt gerannt? Hat er uns gerade angeknurrt?" fragte Rosa und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Eva blieb stehen und sah ihre Freundin an. Zitternd in der Kälte, ihr langes schwarzes Haar nun nass und strähnig. Ihre braunen Augen zeigten, wie unschuldig sie gegenüber der Welt war. Wie konnte sie diesem Menschen beibringen, dass die Welt, in der sie lebte, nicht das war, was sie dachte?
"Eines Tages wirst du das größere Bild sehen. Ich glaube nicht, dass du bereit bist, es jetzt schon zu wissen," sagte Eva.
"Warum nicht?" fragte Rosa, nachdem sie endlich ihren Atem regulieren konnte.
"Weil ich es sage. Komm jetzt," sagte Eva und zog sie durch die Türen des St. Katharinen Frauenhauses.
Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, ihr alles zu erklären. Das Frauenhaus war in den letzten vier Jahren ihr Zuhause gewesen. Die Leiterin, Schwester Raphael, hielt jede Nacht zwei Betten für sie frei, da sie eine Schwäche für die beiden hatte.
"Oh, Mädchen. Seht nur, wie durchnässt ihr seid. Rosa, komm schnell, lass uns dich abtrocknen. Eva, hol ihre Sachen, ja, Liebes?" sagte Schwester Raphael, als sie hineingingen.
Die Mitarbeiter begrüßten sie mit einem freundlichen Lächeln. Die beiden waren wie eigene Kinder für sie, seit sie das erste Mal ins Frauenhaus gekommen waren. Sie trugen ihren Teil bei und halfen, wo sie konnten, bei den misshandelten Frauen und Kindern. Niemand verurteilte den anderen dort, und alle wussten, dass sie sicher waren.
Die Mädchen hatten erfahren, dass eine sehr wohlhabende Frau aus einem anderen Bundesland das Frauenhaus finanzierte. Alles war in bestem Zustand, von den Vorhängen an den Fenstern bis zu den makellosen Böden, auf denen sie gingen. Schwester Raphael sagte, die Frau wolle anonym bleiben, nur ein Vermittler kam einmal im Monat vorbei, um alles in Ordnung zu halten.
"Ja, Schwester," antwortete Eva und lief zu dem Schrank, den sie bekommen hatten, um ihre persönlichen Sachen aufzubewahren.
Rosa wurde zu einem der Badezimmer geführt, das eine Wanne hatte, die groß genug war, um vier Personen zu fassen. Sie war immer wieder erstaunt über die Einrichtung aller Badezimmer. Es gab ihr jedes Mal ein heimeliges Gefühl, wenn sie hier hereinkam.
Die Wände waren beige, die Beleuchtung war sanft, und sie hatten einen Raumheizer installiert, um den Raum unabhängig von der Jahreszeit warm und gemütlich zu halten. Die Schränke waren mit allen möglichen Frauenprodukten bestückt. Die Schränke hatten immer frische, flauschige Handtücher und Einweg-Badeschlappen.
"Faszinierend, nicht wahr?" fragte Schwester Raphael lächelnd die junge Frau, die vor vier Jahren ihr Herz erobert hatte.
"Ja. Sie geben wirklich alles für Menschen, die sie nicht kennen," sagte sie, während sie in die nun mit warmem Wasser gefüllte Wanne stieg.
"Ein gutes Herz ist schwer zu finden, aber ein gutes Herz mit einem reinen Geist ist eine Seltenheit," sagte die Schwester und wusch Rosalines Haare.
"Mmmmm..." antwortete sie entspannt.
Ihr Tag war im Lebensmittelladen, wo sie derzeit als Kassiererin arbeitete, ziemlich schwierig gewesen. Ihr Chef war ein totales Schwein, das sie immer anmachte, wenn seine Frau nicht hinsah. Ihre Tochter, die im gleichen Alter wie sie war, weigerte sich, irgendeine Arbeit zu machen, sodass das Aufräumen und Auffüllen ihr überlassen blieb. Dann waren da noch die regelmäßigen Straßenkinder, die oft hereinkamen und ein Chaos verursachten oder stahlen. Die Polizei zu rufen, machte keinen Unterschied, da sie immer nur eine Verwarnung bekamen.
"Nun komm, mein liebes Kind. Du schläfst gleich ein," sagte die Schwester.
Rosaline spürte die Last ihres Tages auf ihren Schultern und war sehr dankbar für ein warmes Bett, in das sie sich legen konnte, wenn sie nur ein dauerhaftes hätte.
"Haben ihr zwei schon eine Wohnung gefunden?" fragte die Schwester.
"Wenn wir nach zwei Tagen tot in einer Gasse enden wollen, hätten wir sicher die Wohnung auf der anderen Seite der Stadt genommen," sagte sie bitter.
Schwester Raphael kicherte über ihren Ton. Rosaline war sehr stark und zäh für ihre Größe. Nach ihrer einsamen Kindheit hatte sich ihre Einstellung geändert, sie war immer auf der Hut und schützte ihr Herz vor Verletzungen.
"Vielleicht kommt eines Tages dein Märchenprinz und rettet dich," sagte die Schwester scherzhaft.
Das dunkelhaarige Mädchen schnaubte, "Als ob. Das ist alles ein Märchen, Schwester, das hier ist die reale Welt. So etwas gibt es nicht," entgegnete sie und machte sich auf den Weg hinaus.
Das Leben hatte sie gelehrt, dass gute Dinge nicht von Dauer sind, und wenn sie doch für Menschen wie sie passieren, kommen sie mit schwer erreichbaren Ultimaten. Ihre Bitterkeit gegenüber Märchen und reichen Leuten stammte aus einer Erfahrung, die sie sich wünschte, nie gemacht zu haben und zu vergessen.
Sie atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe und fand Trost in dem Wissen, dass sie ein warmes Bett zum Schlafen hatte.
"Ein warmes Bett, dank einer wohlhabenden Frau," höhnte ihr Gewissen.
Ein wenig Reue machte sich in ihr breit, aber sie verweilte nicht darauf. Eva und sie selbst würden bald einen Ort haben, den sie ihr Eigen nennen konnten.
Bald.