Read with BonusRead with Bonus

Kapitel 3

Die Gestalt des Meermanns ist prächtiger und furchterregender, als ich es mir je vorgestellt habe. Seine Haut schimmert im Blitzlicht, Schuppen reflektieren jeden Lichtblitz. Er schlägt wild um sich, seine Augen weit aufgerissen vor Angst und Wut.

„Stan, warte!“ rufe ich und versuche, nach vorne zu drängen, aber das Deck schwankt und wirft mich zurück. „Wir können nicht einfach—“

Stan ignoriert mich, seine Augen fest auf die Beute gerichtet. Die Crew hastet, um das Netz zu sichern, ihre Gesichter leuchten vor Triumph. Der Schwanz des Meermanns schlägt gegen das Deck und spritzt Seewasser in die Luft.

„Sichert das Netz! Lasst ihn nicht entkommen!“ brüllt Stan, seine Stimme kaum hörbar über dem Lärm.

Die Crew kämpft mit dem Netz, ihre Bewegungen ein verzweifelter Tanz. Ich zwinge mich nach vorne, meine Augen auf den Meermann gerichtet. In seinem Blick liegt Intelligenz, ein Funke von etwas, das über bloßen tierischen Instinkt hinausgeht. Er ist nicht nur ein Wesen; er ist empfindungsfähig.

„Stan, bitte! Wir können das nicht tun!“ flehe ich und greife nach seinem Arm.

Stan schüttelt mich ab, sein Gesicht eine Maske der Entschlossenheit. „Wir schreiben hier Geschichte, Phoebe. Nichts hält uns auf.“

Ich wende mich wieder dem Meermann zu, mein Herz bricht bei dem Anblick seines Kampfes. Er trifft meinen Blick, und für einen Moment verblasst alles andere – der Sturm, die Crew, Stans Ehrgeiz. Es sind nur wir, und das Gewicht dessen, was passiert, stürzt auf mich ein.

„Lass ihn gehen,“ flüstere ich, aber meine Stimme geht im Sturm unter.

Stans Stimme durchdringt das Chaos. „Wir haben ihn! Holt ihn rein!“

Die Crew zieht, das Netz nähert sich dem Boot. Ich sehe hilflos zu, wie der Kampf des Meermanns schwächer wird, seine Kraft von dem unbarmherzigen Sturm und dem eisernen Griff des Netzes erschöpft.

Als der Meermann an Bord gehievt wird, schlägt sein Körper mit einem widerlichen Geräusch auf das Deck. Die Crew jubelt, aber ich kann nur starren, mein Herz schwer vor Angst. So sollte es nicht sein. Der Meermann aus meinen Träumen liegt vor mir, gefangen und gebrochen. Was haben wir getan?

Ich kämpfe gegen das Übelkeitsgefühl an, das meinen Magen verdreht, während Stan weiterhin Befehle erteilt.

„Martin, bereite den Tank vor! Will, ich will, dass du das alles aufzeichnest!“ Er dreht sich zu mir um und zeigt auf mich, „Phoebe, hol das Beruhigungsmittel.“ Ich bewege mich nicht. „Jetzt!“

Mein Bauchgefühl schreit, dass sich das alles falsch anfühlt, aber ich kann nicht genau sagen, warum. Oder warum ich mir so sicher bin, dass dieses Wesen das gefährlichste Ding auf diesem Schiff ist, gefährlicher als jeder Hai, den wir hätten hochziehen können… sicherlich mehr eine Bedrohung als Stan.

Die Taucher kämpfen, den Meermann in den vorbereiteten Wassertank zu manövrieren, sein Schwanz schlägt mit verbleibender Kraft um sich. Die Wut des Sturms ist ein fernes Hintergrundgeräusch, während ich mich auf die Aufgabe konzentriere. Ich greife nach dem Beruhigungsmittel, meine Hände zittern, als ich die Nadel in seinen Schwanz steche.

Als die Nadel die Schuppen durchdringt, zuckt er, und einer der Stacheln entlang seines Schwanzes schneidet in meine Haut. Ich zucke zusammen und bleibe dann still, als ich schockiert beobachte, wie der Schwanz mein Blut aufnimmt, die rote Flüssigkeit verschwindet in schillernden roten und schwarzen Schuppen.

Die Augen des Meermanns fixieren meine, sein Blick wird weicher unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels. Er bewegt seinen Schwanz, versucht, ihn um mich zu wickeln, genau wie in meinen Träumen. Für einen Moment bin ich wie gebannt, mein Atem stockt.

„Phoebe, geh zurück!“ Stans Stimme bricht den Bann. Er reißt mich vom Tank weg und erhöht die Dosis des Beruhigungsmittels. Der Meermann wird schlaff, seine mächtige Gestalt wird bewegungslos. Eine unerklärliche Traurigkeit und Schuld überkommen mich, vermischt mit dem Schmerz von meinem Schnitt.

Ich trete näher und beobachte den Meermann genau. Sein langes Haar, verfilzt wie Seetang, umrahmt ein Gesicht mit markanten, gut aussehenden Zügen. Sein Oberkörper ähnelt dem eines erwachsenen Mannes, muskulös und definiert.

Meine Augen wandern zu seinem Unterkörper, die Schuppen glänzen selbst in der intermittierenden Dunkelheit. Unter den Schuppen ist eine deutliche Wölbung zu erkennen, die mir einen Schauer des Wiedererkennens durch den Körper jagt, mich zu sehr an die gemischte Angst und Anziehungskraft meiner Träume erinnernd.

Ich greife nach einer Taschenlampe, deren Strahl das schummrige Licht im Labor durchschneidet. Als ich sie auf den Meermann richte, regt er sich plötzlich. Sein Kopf hebt sich, und seine Augen schnappen auf. Sie sind pechschwarz, wie zwei bodenlose Abgründe. Die schiere Tiefe seines Blicks erfüllt mich sofort mit Angst. Es ist der Blick eines Raubtiers, instinktiv und urtümlich, der mich als seine Beute fixiert.

Ich stolpere zurück, mein Herz hämmert in meiner Brust. Die Augen des Meermanns folgen jeder meiner Bewegungen, unblinkend und intensiv. Es gibt keinen Zweifel an der Intelligenz dahinter, aber es ist eine Intelligenz, die mit etwas Fremdem und Gefährlichem verwoben ist, einer Natur, die ich nicht einmal ansatzweise verstehen kann.

„Phoebe, geh weg vom Tank,“ befiehlt Stan, sein Ton hart und unerbittlich. Er wendet mir bereits den Rücken zu, konzentriert darauf, das Wesen zu sichern. „Wir müssen sicherstellen, dass er vollständig sediert ist, bevor wir ihn untersuchen können.“

Ich schlucke schwer, das Gewicht der Situation drückt auf mich. Das ist nicht nur eine wissenschaftliche Entdeckung; es ist ein lebendes, atmendes Wesen mit Gedanken und Gefühlen. Meine Träume hatten immer auf eine Verbindung zwischen uns hingedeutet, aber jetzt, wo ich vor ihm stehe, fühle ich es intensiver denn je.

„Stan, wir müssen vorsichtig sein,“ sage ich, meine Stimme zitternd. „Er ist mehr, als du denkst...“

Stan wirft mir einen frustrierten Blick zu. „Wir sind Wissenschaftler, Liebes. Unsere Aufgabe ist es, zu studieren und zu verstehen, nicht zu empathisieren.“

Ich weiß, dass er recht hat, aber das lindert das Chaos in mir nicht. Die Augen des Meermanns sind immer noch auf mich gerichtet, eine stille Warnung in ihren Tiefen verborgen. Ich mache einen Schritt näher, trotz Stans Forderungen. Da ist etwas in seinem Blick, ein Erkennen, das an meiner Seele zerrt.

„Phoebe, nicht!“ Stans Stimme ist scharf, aber es ist zu spät.

Der Schwanz des Meermanns zuckt, eine kleine Bewegung, die von den anderen unbemerkt bleibt. Aber ich sehe es, und ich weiß, dass er noch bei Bewusstsein ist. Mein Herz schmerzt bei dem Wissen, dass er gegen seinen Willen festgehalten wird, und ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass wir einen schrecklichen Fehler machen.

Als ich mich näher beuge, wird der Blick des Meermanns wieder weicher, die Raubtierkante verschwindet. Er blinzelt langsam, eine Geste, die sich fast wie eine stille Kommunikation anfühlt. Ich lege eine Hand auf das Glas, meine Finger zittern. Für einen kurzen Moment schwöre ich, dass er versteht. Da ist eine Verbindung, eine unausgesprochene Bindung, die sich jeder Erklärung entzieht.

Stans Hand landet auf meiner Schulter und zieht mich zurück. „Wir haben Arbeit zu erledigen, Liebes. Lass deine Gefühle nicht dein Urteil trüben.“

Ich nicke widerwillig, aber meine Augen lassen den Meermann nicht los. Als das Beruhigungsmittel seine volle Wirkung entfaltet, schließen sich seine endlosen Augen, und sein Körper entspannt sich vollständig. Auf einmal verstummt das Meer, der Sturm verzieht sich.

Um mich herum jubelt die Crew, aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass wir gerade einen schrecklichen, schrecklichen Fehler gemacht haben.

Previous ChapterNext Chapter