




I. Stille Bitten
Elva betrachtete sich im schmutzigen Spiegel.
Die Ränder waren im Laufe der Jahre angelaufen. Schwarze Adern durchzogen die glänzende, sichtbare Fläche, sodass sie kaum noch brauchbar war. Es gab nur wenig, was sie sehen konnte, aber sie musste sicherstellen, dass sie perfekt aussah.
Heute würde sie ihren Ehemann treffen.
Ein Gedanke, der ihr Herz in Stücke riss. Sie spürte den schmerzhaften Druck in der Tiefe ihrer Brust. Langsam atmete sie ein und biss sich auf die Lippen, als sie sah, wie sie in ihrem Spiegelbild zitterten. Ihre Nase brannte, als sie die Tränen hinter ihren Augen aufsteigen fühlte.
„Nein, ich darf nicht schwach sein. Ich muss das tun“, flüsterte sie zu sich selbst und schob eine kleine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
Ihre Hand zitterte, als sie sie zurück auf ihre Oberschenkel legte und den Stoff des Kleides glättete, das sie trug. Eine Brise wehte durch das offene Fenster und hüllte sie in den frischen Duft des Frühlings. Sie richtete ihren Blick auf den blauen Himmel und konnte das zitternde Lächeln, das ihre Lippen hob, nicht unterdrücken.
Furchterregende Emotionen wurden stärker und zogen die Muskeln in ihrer Brust noch enger zusammen. Sie würde diesen Ort vermissen. Ihr Zuhause vermissen. Ihren Vater vermissen.
„Oh, Vater. Warum hast du mir das angetan?“
Sie wischte die Träne von ihrer Wange, die entschlossen gefallen war.
„Ich weiß, ich habe es versprochen, aber warum?“
Sie schüttelte den Kopf, zog ihr Kleid unter ihre Beine und setzte sich auf die Bettkante. Wie jeden Tag nahm sie das Tagebuch ihrer Mutter und drehte es leicht in ihren Händen.
Der Einband war zerfleddert, nur noch wenige Lesungen entfernt vom Auseinanderfallen. Obwohl ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, hatte sie nie das Gefühl, dass sie wirklich weg war. Nicht mit all ihren Gedanken, die auf Seiten geschrieben waren, die sie erreichen konnte.
„Du hättest mich nicht weggegeben, oder?“
Sie drückte das Tagebuch an ihre Brust und wollte irgendeine Art von Verbindung zu der Frau spüren, deren Blut durch ihre Adern floss. Deren haselnussbraune Augen die gleichen waren wie ihre eigenen.
Oder so hatte man es ihr gesagt.
Mit einem Seufzen legte sie das Tagebuch zurück auf das Bett und fühlte sich plötzlich schuldig, ihrem Vater die Schuld zu geben. Sie war erst dreizehn, als ihr Vater, Earl Arrion, entschieden hatte, dass ihr Leben ein Mittel zur Erreichung des Friedens werden würde. Sie war der Preis, den er zahlen musste. Die einzige Zahlung, die der Jarl akzeptieren würde.
Ein scharfes Klopfen ließ sie unbehaglich zusammenzucken.
„Herein.“
„Elva“, Annmarie, ihre Zofe, die zuvor die Zofe ihrer Mutter gewesen war, trat mit einem zögerlichen Lächeln ins Zimmer.
Elva schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und bemerkte das Mitleid in Annmaries dunklem Blick. Sie hatte schon genug Mitleid mit sich selbst, sie brauchte nicht noch mehr davon.
Die Zofe drehte eine Blume in ihrer Hand, eine Dahlie.
„Dein Vater wollte, dass du diese hast. Um sie in dein Haar zu stecken.“
Elva schenkte ihr ein trauriges Lächeln, nahm die Blume in ihre Hände und versuchte, sie in ihr Haar zu stecken. Annmarie nickte sanft und erkannte Elvas stummen Wunsch an.
Sie wollte allein sein.
Sobald die Tür geschlossen war und sie sich wieder allein fand, ließ Elva ihre Hände sinken und drehte den Stiel der Blume zwischen ihren Fingern.
Sie wusste, warum sie tun musste, was von ihr verlangt wurde. Ihr Vater suchte Frieden mit Jarl Agnar, der nur den Preis seiner Tochter akzeptierte. Nur dann würde er die Überfälle auf die Dörfer einstellen.
Jarl Agnar war vor Jahren mit seinen Leuten angekommen. Sie kamen auf Schiffen, und als man zum ersten Mal von den Fremden hörte, wuchs die Angst vor dem Unbekannten in den Dörfern.
Diese Angst war berechtigt und wurde weiter verstärkt, als die Angriffe begannen.
Elva stimmte der arrangierten Ehe zu, wohl wissend, dass ihr Vater keine andere Wahl hatte, keine anderen Optionen. Ihr Volk hungerte, sie wurden getötet, entführt und überfallen. Ihr Vater war drastisch gealtert, der Stress fraß ihn auf. Frieden war eine gute Sache und etwas, das sie dringend brauchten.
Und Elva war bereit, ihre Freiheit dafür aufzugeben.
Sie kaute auf ihren Lippen, während sie in ihrem Zimmer auf und ab ging, ihr Magen lebendig vor Nervosität, die sich unangenehm anfühlte. Ihr Magen war leer, obwohl sie in diesem Moment nicht einmal ans Essen denken konnte.
Als ihre Füße sie zum Stillstand brachten, schloss sie die Augen und ließ ihren Körper schwingen.
„Bitte, lass ihn gut sein.“
Sie betete zu wem auch immer, der zuhören würde.
„Bitte.“
Jarl Agnar hatte zwei Söhne. Sie sollte den ältesten heiraten, sobald sie einundzwanzig wurde. Doch der Jarl war vor Jahren gestorben und hatte seine Söhne für sein Territorium verantwortlich gemacht. Sie dachte, das würde sie vor der Ehe bewahren, aber erst letzte Woche bestand der neue Jarl Agnar darauf, dass Elva ihm jetzt übergeben werden sollte, auch wenn sie erst zwanzig war, ein Jahr vor der vereinbarten Zeit.
Vielleicht machte das diesen Tag für Elva und Earl Arrion schwieriger, sie dachten, sie hätten mehr Zeit.
Sie blickte auf ihr Kleid, auf ihre Zehen, die unter dem langen Rock hervorlugten.
„Elva?“
Sie schnappte nach Luft, ihre Augen füllten sich sofort mit Tränen, als sie ihren Vater in der Tür stehen sah.
„Oh, Elva,“ Er trat auf sie zu, legte seine Arme um ihre Schultern und ließ sie in seine Brust weinen.
Sobald sie wieder zu Atem kam, zog sie sich zurück. Sie musste sich daran gewöhnen, nicht mehr zu ihrem Vater laufen zu können, um Trost zu finden.
„Ich kann es zurücknehmen, ich kann ihm sagen, dass wir einen anderen Weg finden müssen,“ flüsterte er und suchte in ihren Augen nach Zustimmung.
„Er würde dich töten,“ Elva schüttelte den Kopf. Er würde eine solche Beleidigung nicht leicht nehmen.
„Ich würde lieber sterben, als dich wegzuschicken.“
Die Angst und absolute Verzweiflung waren deutlich in seinen Augen zu sehen. Es brachte Elva um, das zu sehen, denn es war zu spät. Warum hatte er das nicht früher gesagt? Warum hatte er sie nie vorher gefragt?
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn langsam an, „Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann.“
Er griff nach ihrer Hand, nahm die Blume aus ihrem Griff und steckte sie sanft hinter ihr Ohr.
„Du siehst genauso aus wie deine Mutter.“
Elva spürte, wie ihr Gesicht zuckte. Ihre Mutter, die so jung gestorben war. Ihre Mutter, die nie ihr eigenes Kind halten konnte. War sie für dasselbe Schicksal bestimmt? Ihr Zuhause zu verlassen, um einen Fremden zu heiraten, war schon herzzerreißend genug. Sich ihren eigenen Tod vorzustellen, war jedoch zu viel.
„Hast du sie geliebt?“
Arrion runzelte die Stirn, „Du weißt, dass ich das habe. Und immer noch tue.“
„Ich meine, als ihr frisch verheiratet wart.“
Erkenntnis dämmerte in seinen Zügen, „Ich weiß nicht, ob Liebe das richtige Wort ist, aber ich wusste, dass ich es wollte.“
Elva schaute weg, nicht wissend, wie sie die Worte einordnen sollte. Ihr Vater war kein gewalttätiger Mann. Er war nicht kriegslüstern. Nicht wie Jarl Agnar.
„Glaubst du, ich werde so viel Glück haben wie du? Dass meine arrangierte Ehe zu einer Liebesheirat wird?“
„Ich hoffe es.“
Elva nickte, immer noch nicht überzeugt, immer noch das Schlimmste denkend. Sie verfielen in ein Schweigen, das weder tröstlich noch friedlich war. Sie waren still, weil das alles war, wozu sie fähig waren.
Im selben Raum zu atmen.
„Bruder.“
Arrion zog sich zurück und drehte sich zu seinem Bruder um, der nun in der Tür stand.
„Was ist, Alden?“
„Sie nähern sich.“
Arrions Gesicht wurde blass und er warf Elva keinen Blick zu, bevor er schnell den Raum verließ.
„Er-er ist hier?“ Elva spürte, wie ihre Knie nachgaben.
Aldens Augen weiteten sich, als er sie ansah. Er lächelte sie sanft an und bot ihr seinen Arm an.
„Du siehst wunderschön aus, Nichte. Genauso wie deine Mutter,“ seine Stimme war voller Emotionen. Der Klang seiner Worte war fast traurig, genauso verheerend wie der Blick in den Augen ihres Vaters.
Elva konnte nur lächeln, auch wenn sie weiterhin zitterte. Sie nahm seinen Arm, aber er hielt sie zurück, ließ sie nicht die Schwelle überschreiten. Sie sah zu ihm auf und fragte sich, was er vorhatte.
Er blickte zur Tür, lauschte einen Moment, bevor er zögernd wieder zu ihr sah.
„Ich habe es deinem Vater gesagt, weißt du. Ihn angefleht.“
„Was meinst du?“
„Ich habe ihn angefleht, einen anderen Weg zu finden.“
Ihr Herz zog sich zusammen, „Du?“
Er nickte, niedergeschlagen.
„Mein Vater hat mir heute gesagt, dass er den Jarl bitten würde, einen anderen Weg zu finden. Dass er lieber sterben würde, als mich wegzuschicken.“
Es war extrem schmerzhaft zu erkennen, dass der einzige Grund, warum ihr Vater schließlich seine Entscheidung in Frage stellte, ihr Onkel war und nicht, weil er wirklich seine Meinung geändert hatte.
Alden biss die Zähne zusammen.
„Liebt Vater mich überhaupt?“
„Oh, Elva, das tut er.“
„Aber es war so einfach für ihn, zuzustimmen. Mich wegzugeben. Und dann keine Reue zu zeigen? Seine Meinung nicht zu ändern? Sieben Jahre lang?“
Alden zog sie in eine enge Umarmung, „Der Tod deiner Mutter hat ihn- Es hat ihn völlig verändert. Manchmal erkenne ich meinen eigenen Bruder nicht wieder.“
Elva zog sich zurück, „Er gibt mir die Schuld, nicht wahr?“
„Er will es nicht.“
Aber das tat er. Elva wusste es, auch wenn sie es nie zugeben wollte. Dass ihr Onkel ihre Vermutungen bestätigte, war ein schmerzhafter Schlag.
„Gib mir das Wort, Elva, und ich helfe dir. Ich bringe dich weit weg von hier. Wir können durch den Hinterausgang verschwinden.“
Elva wich zurück, „Sie würden ihn töten.“
„Er verdient deine Loyalität nicht, Elva. Vater hin oder her.“
Ein bitterer Verdacht explodierte in ihrer Brust. Alden hatte nie so über ihren Vater gesprochen. Die Worte aus seinem Mund fühlten sich fremd an, besonders in Kombination mit dem hasserfüllten Dunkel in seinem Blick.
„E-er ist dein Bruder.“
„Eines Tages wirst du es verstehen.“
„Verstehen was?“
„Dass Blut der einzige Grund ist, warum mein Bruder noch atmet.“
Elva schnappte nach Luft und presste ihre Hand an ihre Brust. War sie so blind gewesen gegenüber dem Hass, den er auf ihren Vater hegte? Galt dieser Hass auch ihr?
Sie machte einen Schritt zurück, „Du willst, dass er stirbt?“
Er runzelte die Stirn, schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und schüttelte den Kopf, „Nein, nicht mehr. Es gab eine Zeit, da wollte ich es. Und ich hätte ihn getötet. Wenn deine Mutter mich nicht aufgehalten hätte.“
„Meine Mutter?“
Alden seufzte, „Es ist-“
Elva sprang auf, erschrocken durch das laute Klopfen an ihrem Türrahmen, das Aldens Worte unterbrach. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und sie war kurz davor, die Tür zuzuschlagen, um denjenigen abzuwehren, der ihren Onkel daran gehindert hatte, dunkle Geheimnisse zu enthüllen.
Aber ihr Gesicht erbleichte, als Aart, die rechte Hand ihres Vaters, mit einem ernsten Blick in der Tür stand. Er verengte die Augen bei Alden, bevor er seine Gesichtszüge milderte, als er Elva ansah.
„Es ist Zeit, meine Liebe.“
Sie atmete zitternd aus und warf Alden einen Blick zu, der hoffentlich verletzend war. Ihr Gespräch war noch nicht vorbei.
„Kann ich noch ein paar Momente mit meinem Onkel haben?“
Aart erstarrte, schockiert über ihre Bitte, „Absolut nicht.“
Elva runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden Männern hin und her. Sie standen unbehaglich da, als ob sie die Anwesenheit des anderen hassten. Erst jetzt wurde Elva klar, dass sie die beiden nie zusammen im selben Raum, im selben Gespräch gesehen hatte. Sie mieden einander.
Aart räusperte sich, „Ich meine, der Jarl ist definitiv kein geduldiger Mann. Er verlangt sofort nach deiner Anwesenheit, und wenn wir ihn noch länger warten lassen, fürchte ich, wird es Konsequenzen geben.“
Elva nickte, lehnte sich zu Alden und küsste ihn sanft auf die Wange, „Wir sprechen bald, Onkel.“
Alden streichelte ihre Wange, „Ich hoffe es.“
Sie nahm Aarts Hand und lehnte sich an ihn, weil ihre Beine zitterten. Er spürte ihre schwitzenden Handflächen und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.
Elva atmete laut aus, „Lass es uns hinter uns bringen.“
Ihr Magen hatte sich seit dem Anziehen des Kleides nicht beruhigt, und jetzt war sie mehr als bereit, dass es aufhörte. Sie wollte, dass das alles ein Traum war. Sie wollte aufwachen.
Aber das tat sie nicht.
Und sie würde es nicht.
Sie schaffte es bis in die Halle, wo ihr Vater und ihr zukünftiger Ehemann standen.